«Wir möchten mehr Awareness schaffen»
Die systemische Mastozytose ist als hämatologische Neoplasie eine von wenigen Krebserkrankungen, welche zu den sehr seltenen Erkrankungen zählen. Dr. Marc Heizmann, Leitender Arzt, Onkologie, Hämatologie und Transfusionsmedizin, Kantonsspital Aarau AG, engagiert sich dafür, mehr Awareness für die Erkennung dieser Krankheit und deren Behandlungsoptionen zu schaffen. Verschiedene Abteilungen des KS Aarau haben sich zu einem europäisches Kompetenzzentrum für Mastozytose im Rahmen des European Competence Network on Mastocytosis (ECNM) zusammengeschlossen. Mit der Zulassung des Multi-target-Tyrosinkinase-Hemmers Midostaurin (Rydapt®) steht ein erstes effizientes zytoreduktives Medikament zur Verfügung, womit sich die therapeutischen Optionen eminent verbessert haben. In diesem Jahr wurde Rydapt® mit dem Prix Galien Suisse, Kategorie Cancer, ausgezeichnet.
Würden Sie bitte für unsere Leser die Mastozytose beschreiben?
Dr. Marc Heizmann: Bei der Mastozytose handelt es sich in erster Linie um eine neoplastische Mastzellerkrankung. Dabei unterscheiden wir die rein kutane Mastozytose von der systemischen Mastozytose. Die rein kutane Form ist fast ausschliesslich im Kindesalter anzutreffen.
Im Erwachsenenalter weist der allergrösste Teil der Patienten die systemische Form auf, bei welcher die Infiltration der Haut durch neoplastische Mastzellen häufig begleitend zu anderen Organinfiltrationen ist. Die Diagnose der systemischen Mastozytose gelingt mit dem Nachweis von malignen Mastzellen im Gewebe anderer Organe als der Haut, wie zum Beispiel dem Magen-Darmtrakt u.a. Da die Mastzelle aber eine Knochenmarkszelle ist, ist es naheliegend, dass mit der Knochenmarkspunktion (KMP) diese malignen Zellen gesucht werden. Die Knochenmarkspunktion ermöglichst die Diagnosestellung der systemischen Mastozytose mittels Morphologie, Immunphänotyp und Genetik.
Die Klassifikation der systemischen Mastozytose (SM) wird nach Schweregrad der Erkrankung eingeteilt in indolent, schwelend (smoldering) und aggressiv. Bei der aggressiven Form führt die Mastzellinfiltration zur Dysfunktion eines Organs, z.B. der Leber mit Aszites oder des Darms mit Malnutrition, begleitet meist von Diarrhoe, und im Knochenmark ist die Infiltration durch Mastzellen dermassen ausgeprägt, dass es zur Anämie oder zur Thrombopenie kommt, also die Hämatopoiese eingeschränkt ist.
Bei der indolenten Form stehen die Mediatoren-vermittelten Beschwerden, also Symptome, die durch die Histaminausschüttung hervorgerufen werden im Vordergrund. Diese können aber ein Ausmass annehmen, dass die Arbeitsfähigkeit der Patienten und deren Leistungsfähigkeit im Alltag deutlich eingeschränkt sind. Die Patienten klagen über typische Mastzellsymptome wie Kopf- und Knochenschmerzen, Flush-Symptomatik und Herzkreislaufstörungen bis hin zu wiederkehrenden Synkopen, schwerste, allergische Reaktionen, psychische Alterationen mit Depression und Einschränkung der Konzentration. Meistens besteht eine Unverträglichkeit für mehrere Nahrungsmittel mit wiederkehrenden Durchfällen, aber auch generalisierter Pruritus, ausgelöst durch Hitze, Schwitzen oder einfach nur Stresssituationen.
Alles was zwischen der aggressiven und der indolenten Form liegt, also neben Mediatoren-vermittelter Problematik wie auch eine bekannte hohe Infiltrationsrate in den Organen, aber noch nicht zur Organdysfunktion führt, wird gemäss aktueller WHO-Klassifikation als schwelende oder smoldering SM bezeichnet.
Liegt die Mastzellinfiltration im Knochenmarksausstrich über 20 % oder im Blut über 10 %, sprechen wir von einer Mastzellleukämie, der schwersten Form der SM.
Als spezielle Form der SM kann diese auch begleitend zu anderen hämatologischen Neoplasien auftreten. Dies sind häufig myelodysplastische oder myeloproliferative Erkrankungen.
Ab wann würden Sie von einer fortgeschrittenen systemischen Mastozytose sprechen?
Dr. Heizmann: Dies ist eine schwer zu beantwortender Frage. Allgemein spricht man von einer fortgeschrittenen, oder advanced Mastozytose, wenn eine aggressive SM, eine Mastzellleukämie oder eine SM assoziiertmit einer anderen hämatologischen Neoplasie vorliegt. Die Frage ist aber, ob diese diagnostischen Kriterien ausreichen, eine fortgeschrittene Mastozytose zu definieren.
Viele Patienten erfüllen häufig «nur» die diagnostischen Kriterien der indolenten oder smoldering SM, sind aber, auf Grund der ausgeprägten Mediator-vermittelten Beschwerden trotz komplett ausgebauter symptomorientierter Therapie, deutlich bis komplett eingeschränkt, einer Arbeit oder Beschäftigungen im Alltag nachzugehen. Für diese Patienten würde eine erfolgreiche zytoreduktive Therapie die Rückkehr in ein alltägliches Leben ermöglichen, an welchem die Patienten häufig seit Jahren nicht mehr teilnehmen konnten.
Wie häufig sind systemische Mastozytosen?
Dr. Heizmann: Es liegen kaum epidemiologische Daten vor. Die Inzidenz der SM dürfte bei vier bis fünf Neuerkrankungen pro 1 Million Einwohner pro Jahr liegen.1 Die Prävalenz ist ca. zehn Mal mehr. Der Grossteil der neu diagnostizierten systemischen Mastozytosen gehört zur prognostisch günstigen indolenten Form ohne Indikation für eine zytoreduktive Therapie mit normaler Lebenserwartung. Die weiteren Formen sind somit sehr selten und haben mit einer Lebenserwartung von wenigen Monaten bis 3,5 Jahren eine sehr schlechte Prognose.2 Somit gilt die SM als Rare Disease in der Schweiz.
Welches sind die Verdachtsmomente?
Dr. Heizmann: Häufig kommen die Zuweisungen zur Abklärung einer SM aus dermatologischen oder allergologischen Praxen, da die meisten indolenten Formen im Erwachsenenalter mit typischen kutanen Manifestation der Mastozytose einhergehen oder sich mit einer schweren allergischen Reaktion zum ersten Mal manifestieren. Es kann in dieser Situation eine Serumtryptase bestimmt werden und bei Werten > 20 µg/l sollte die Zuweisung zu einem Hämatologen oder Onkologen erfolgen, um mittels KMP zu sichern, ob es sich um eine systemische Form der SM handelt. Immer wieder aber melden sich Patienten mit diagnostizierter SM selbst bei uns an. Sie haben bereits irgendwann in ihrem Leben die Diagnose «Mastzell-erkankung» bekommen, sind aber kaum unter regelmässiger ärztlicher Kontrolle. Die Selbsthilfegruppe für Patienten mit SM, gegründet durch eine engagierte Patientin aus unserer Sprechstunde, zeigt den Patienten auch den Weg in eine spezialisierte Sprechstunde.
Es liegt in unserem Engagement als Zentrum der ECNM, Dermatologen, Allergologen, Gastroenterologen und Rheumatologen an die Leitsymptome der SM wie Osteoporose, chronische Diarrhoe, wiederholte schwere, allergische Reaktionen resp. die typischen kutanen Manifestationen zu erinnern. Der Tryptase-Wert kann als Screening-Parameter eingesetzt werden, um bei Werten > 20 µg/l eine weitere Abklärung zu veranlassen.
Wie klären Sie eine systemische Mastozytose ab?
Dr. Heizmann: Dabei handelt sich um eine klassische, integrative Diagnostik einer hämatologischen Neoplasie, bei der die Untersuchung des Knochenmarks im Vordergrund steht. In der Aspirationszytologie sieht man abnormen Formen von Mastzellen. Die histologische Untersuchung durch den Pathologen zeigt ebenfalls die abnormen Formen der Mastzellen, aber auch die Architektur des Knochenmarks mit dem Nachweis sogenannter Cluster von Mastzellen. Der Pathologe bestimmt zusätzlich den Immunphänotyp, der zusätzlich aus dem Knochenmarksaspirat mittels Durchflusszytometrie bestätigt wird. Schliesslich führt die die genetische Abklärung mittels PCR mit Nachweis der c-KIT-Gen D816V Mutation zur definitiven Bestätigung der SM. Wenn dann die Diagnose SM steht, ist die Osteoporose-Abklärung obligat und weitere Untersuchungen richten sich nach dem Beschwerdebild. Das KS Aarau ist ein europäisches Kompetenzzentrum für Mastozytose, was idealerweise eine interdisziplinäre Beurteilung jedes Patienten mit SM vereinfacht.
Welche therapeutischen Möglichkeiten gibt es?
Dr. Heizmann: Prinzipiell unterscheiden wir bei der Therapie zwei Vorgehensweisen: Das eine ist die symptomatische Behandlung, die Mediatoren-gerichtete Therapie mit einem H1-, H2-Blocker, um der wahren Histamin-Flut bei diesen Patienten Herr zu werden. Bei Befall des Gastrointestinaltrakts gebe ich immer noch einen H2-Blocker, das Ranitidin, hinzu. In diesen Topf der symptomatischen Behandlung gehört der Mastzellstabilisator Cromoglicinsäure systemisch oder topisch und Kortison, meist als Reservemedikation um Beschwerdespitzen zu kupieren. Dieses nützt auch gut bei Fatigue, sollte aber nicht als Langzeittherapie verordnet werden. Weiterhin verwenden wir Schmerzmittel, Antidepressiva, Kalzium, Vitamin D3 und gegebenenfalls Bisphosphonate bei Osteoporose.
Der zweite Topf der Therapien umfasst die zytoreduktiven Therapien. Bereits bekannt ist die Wirkung von Interferon und Cladribin zur Behandlung einer SM, jedoch häufig nur mit mässigem Erfolg. Schliesslich ist es nun die Zulassung von Midostaurin, einem Multitarget-Tyrosinkinase-Inhibitor, u.a. mit inhibitorischer Wirkung auf c-KIT, welcher die therapeutischen Möglichkeiten der SM häufig eindrücklich verbessert.
Wie sehen Sie die Awareness für die systemische Mastozytose?
Dr. Heizmann: Dank der Firma Novartis konnten Mittel zu Verfügung gestellt werden, Materialen zu erstellen, welche die Awareness unter den Ärzten steigern sollte. Wir werden im November auch zum ersten Mal eine grössere, anerkannte Fortbildung zum Thema Mastozytose mit internationalen Referenten in der Schweiz veranstalten. Ich hoffe auch, dass mit der Gründung von weiteren europäischen Kompetenzzentren in der CH die Awareness in den verschiedenen Regionen der Schweiz gefördert werden kann.
Vielen dank für das Gespräch.
Interview:
Winfried Powollik
Referenzen:
- Metzgeroth M et al. Aktuelles zur systemischen Mastozytose. Dtsch Med Wochenschr 2014; 139: 1572–1575.
- Valent P eta l. Refined diagnostic criteria and classification of mast cell leukemia (MCL) and myelomastocytic leukemia (MML): a consensus proposal. Ann Oncol 2014; 25: 1691–1700.
Diesen Bericht «Erkrankung im Fokus» konnten wir dank der freundlichen Unterstützung durch Novartis Pharma Schweiz realisieren. Die Firma hatte keinerlei Einfluss auf den Inhalt.