Bei 90 % wird die Diagnose nicht gestellt
ADHS betrifft keineswegs nur Jugendliche, sondern ebenso Erwachsene, die das aber oft gar nicht wissen. An einer Fortbildungsveranstaltung im Universitätsspital Basel, organisiert von der academy of Swiss Insurance medicine (asim), ging der inzwischen emeritierte Professor Dr. rer. nat. Rolf-Dieter Stieglitz vertieft auf die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ein. Seiner Ansicht nach wären viele Fehlentwicklungen bei rechtzeitiger Diagnose und Behandlung vermeidbar.
Mit seinem Kinderroman «Der Struwwelpeter» hat der Frankfurter Arzt Dr. Heinrich Hoffmann vor rund 150 Jahren einen nennenswerten Beitrag zur Kinder- und Jugendpsychiatrie geleistet. Die Geschichte vom unruhigen Zappel-Philipp lieferte eine erste Beschreibung der Aufmerksamkeits(defizit)/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen in der Literaturgeschichte. Doch den Zappel-Philipp gibt es nicht nur bei Kindern und Jugendlichen. Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität sowie Impulsivität sind die drei Kernsymptome, welche gemäss Prof. Stieglitz auch stark auf ADHS im Erwachsenenalter hindeuten.
Die Alltagsbewältigung fällt meist schwer
Hinzu kommen noch Nebensymptome wie Desorganisation, schnelle Stimmungswechsel sowie eine verminderte Belastbarkeit, eine reduzierte Schmerztoleranz und oft emotionales Überreagieren. Was sich aber wie ein roter Faden durch das ganze Leben eines ADHS-Betroffenen zieht, ist ein tief sitzendes Selbstwertproblem.
ADHS beginnt in der Regel zwar in der Kindheit, bleibt allerdings bei rund der Hälfte dieser Personen im Erwachsenenalter bestehen – manchmal in anderer Ausprägung als in der Jugend – und beeinträchtigt sie erheblich in ihrem Leben. Eine möglichst frühzeitige Diagnose und Hilfeleistung sei dringend geboten, so Prof. Stieglitz. Sonst sei es für die Patienten schwer, ihren Alltag erfolgreich zu bewältigen.
«Bei 90 % der Betroffenen wurde allerdings nie die Diagnose ADHS gestellt», sagte der frühere langjährige Leitende Psychologe an den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) in Basel. Das Krankheitsbild wird oft erst festgestellt, wenn die Patienten wegen eines anderen Problems in Behandlung sind.
Das ganze Leben der Patienten im Visier haben
ADHS wird in der Fachwelt immer noch kontrovers diskutiert. Während Fachärzte von einer Neurotransmitter-Störung des Dopamin-Rezeptors sprechen und das Krankheitsbild zu einem hohen Anteil auf genetische Faktoren zurückführen, geben sich pädagogische Kräfte oft skeptischer und bezeichnen ADHS gerne als «Modediagnose». Von einer Modediagnose kann laut Prof. Stieglitz aber nicht die Rede sein.
Bei ADHS muss man letztlich das ganze Leben – inklusive der Familie – im Visier haben. Wie bei der Schizophrenie ist auch bei ADHS der genetische Faktor sehr ausgeprägt (60–80 %). Bei einer Anamnese Erwachsener empfiehlt er unbedingt, nach alten Zeugnissen zu fragen – allerdings nicht nach den Noten, weil diese nach Meinung des Experten nichts aussagen. Vielmehr sollte man Bemerkungen wie beispielsweise «O. war nicht in der Lage, sich im Unterricht zu konzentrieren» ernst nehmen.
Hinsichtlich der Abklärung von ADHS hält Prof. Stieglitz grosse Stücke auf das sogenannte Wender-Reimherr-Interview, einen Selbstbeurteilungsfragebogen, bei denen Betroffenen z.B. die Frage «Wie sieht es bei Ihnen im Inneren aus?» beantworten sollen. Dieser weist allerdings auch gewisse Tücken auf: Nicht jeder kann oder will seine persönlichen Probleme beschreiben.
Medikamente plus Psychoedukation
Konservative Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 3–4 % der erwachsenen Bevölkerung zu den ADHS-Patienten zu zählen sind. Die Notwendigkeit einer Behandlung hängt massgeblich von der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens und des Soziallebens ab. In der Therapie steht die Kombination von medikamentösen und nichtmedikamentösen Behandlungen zur Verfügung. Vorrangige Bedeutung für Prof. Stieglitz hat dabei die Psychoedukation kombiniert mit Medikation und eventuell begleitet von einer Psychotherapie.