7. Nov. 2018

Vierzig Jahre das Haus nicht verlassen

HAMBURG – Frühförderung gilt bei autistischen Kindern heute als selbstverständlich, sie kann die Prognose der Betroffenen deutlich verbessern. Was passiert, wenn Fördermassnahmen unterbleiben, zeigt das tragische Beispiel eines Patienten.

Eigentlich sollte man einen solchen Fall heute nicht mehr für möglich halten. Seit seiner Schulzeit hatte der 60-jährige Mann, den Rüdiger­ Kurz vom sozialpsychia­trischen Dienst Hamburg-Wandsbek besuchte, sein Zuhause nicht mehr verlassen. Nach dem Tod des Vaters hatte er dort allein mit der Mutter gelebt, berichtete der Neurologe. Von den anderen Kindern war er in der Schule immer wieder gehänselt worden, da hatten ihn die Eltern gleich zu Hause behalten.

Er hatte keinen Schulabschluss, bekam Jahrzehnte lang keinen Besuch, hatte keinen Hausarzt und besass noch nicht einmal eine Krankenversicherung – das war der Stand der Dinge, als Schwester und Nichte den Dienst zur Hilfe riefen. Dessen Mitarbeiter trafen auf einen Mann, der nicht nur offenkundig massiv in seinem Sozialverhalten gestört war, sondern auch schwerwiegende körperliche Symptome aufwies: Ein bereits nekrotisierendes Ulkus am rechten Fuss sowie eine sich langsam ausbreitende spastische Tetraparese.

Im Spital, das sich trotz des fehlenden Versicherungsschutzes des Mannes erbarmte, stellte man wenig später auch eine chronische Niereninsuffizienz und eine arterielle Hypertonie fest. Als kompliziert erwies sich die Suche nach der Ursache der Lähmungen: Zerebrale Mikroangiopathie lautete schliesslich die Diagnose angesichts der multiplen MRT-Signalanhebungen in weiten Gehirnbereichen.

Der Patient vermeidet Augenkontakt noch immer


An der Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung hatten bereits die Erzählungen der Angehörigen wenig Zweifel gelassen: Schon als kleiner Junge, berichtete die Schwester, liess der Bruder körperliche Nähe nicht zu, auch Augenkontakt wurde vermieden. Gleichzeitig erzürnte es ihn, wenn man ihn bei seinen zwanghaften Ritualen – zum Beispiel der wiederholten Abfolge aus: penibles Ausbreiten eines Taschentuchs auf dem Sofa, Aufheben und Winken – störte.

Auch in der Einrichtung für Menschen mit erworbenen Hirnschäden, in der er inzwischen lebt, zeigt ihr Patient ähnliche Auffälligkeiten, berichten Rüdiger Kurz und seine Kollegin Dr. Frauke
Ishorst-Witte vom Gesundheitsamt Hamburg-Wandsbek. Verbindung zu den WG-Mitbewohnern hat er keine, auch Blickkontakt zu Menschen nimmt er nach wie vor nicht auf. Seine Zeit verbringt der inzwischen rollstuhlpflichtige 60-Jährige zu weiten Teilen vor dem Fernseher, wo er sich his­torische und naturwissenschaftliche Sendungen anschaut.

Immerhin besteht ein Vertrauens­verhältnis zu seiner Betreuerin, erklären die beiden Autoren. Ausserdem kann er heute in Begleitung U- und S-Bahn fahren. Ob die zu beobachtende Störung des formalen Denkens ebenfalls Folge der ursprünglichen Krankheit ist, lässt sich aus heutiger Perspektive nur schwer beurteilen. Für sie wie auch die Herabsetzung von psychomotorischer Geschwindigkeit und Antrieb könnten auch die Schäden durch die zerebrale Mikroangiopathie verantwortlich sein.

Verhaltenstherapie lohnt sich auch bei Erwachsenen

«Die Früherkennung von Störun­gen im Autismus-Spektrum hat eine grosse Bedeutung. Denn die frühe Förderung kann das sprachliche und soziale Verhalten der Kinder erheblich verbessern», schreiben die Autoren. Selbst im Erwachsenenalter lässt sich noch mittels Verhaltenstherapie die Lebensqualität der Betroffenen optimieren. «Die jahrelange Isolierung hat eine günstige Entwicklung in diese Richtung verhindert», so ihr Fazit über den eigenen Patienten. Umso deutlicher veranschauliche der geschilderte Fall die Bedeutung, die dem sozialpsychiatrischen Dienst zukomme, wenn Menschen krankheitsbedingt das ambulante und stationäre Versorgungsangebot nicht mehr wahrnehmen können.

Michael Brendler


Kurz R, Ishorst-Witte F.
Hamburger Ärzteblatt, 2018; 72: 34–35.