Die Grippeimpfung ist nach wie vor bei den Schweizern unbeliebt
BERN – Alle Jahre wieder zieht die Influenza-Welle in der kalten Jahreszeit durchs Land und legt die Bevölkerung flach. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) warnt davor, frühzeitig Panik zu schüren. Vielmehr lohne es sich, das Vorgehen bezüglich Grippeprävention im Ausland näher zu betrachten.
Die Grippesaison steht vor der Tür – doch nur jeder fünfte Schweizer entscheidet sich für eine Impfung. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob die Influenza allzu sehr auf die leichte Schulter genommen wird, zumal während der Grippewelle 2015/2016 mehr Personen gestorben sind als sonst, und auch ein Jahr später nahm die Zahl der Todesfälle zu, wobei vor allem ältere Menschen betroffen waren.
«Die Viruserkrankung kann bei Betagten eine Lungenentzündung mit anschliessendem Spitalaufenthalt nach sich ziehen, was nicht selten tödlich enden kann. Das Problem besteht darin, dass die Grippe als Auslöser kaum erfasst und demzufolge auch unterschätzt wird», erklärt Dr. Mark Witschi, Leitung Sektion Impfempfehlungen und Bekämpfungsmassnahmen beim BAG. Auch könne der jeweilige Epidemieverlauf nur schwer vorausgesagt werden, da in manchen Jahren junge Erwachsene stärker betroffen seien, die mit der Viruserkrankung in der Regel allerdings leichter fertig würden. Nur weil die diesjährige Grippe in Australien eher heftig ausfiel, bedeute dies aber keineswegs, dass hierzulande dieselbe Situation auftreten müsse.
Doch auch heuer bietet die angebotene Impfung aufgrund der ständig neuen Virusstämme keinen vollständigen Schutz vor einer Grippe, und das dürfte wohl auch einer der Gründe sein, weshalb die Mehrheit aller Bürgerinnen und Bürger eine reservierte Haltung bezüglich Impfung einnimmt. Besonders bei Betagten, die auf einen zuverlässigen Schutz angewiesen sind, wirkt der Impfstoff offenbar nicht immer ausreichend. Deshalb suchen Wissenschaftler derweil nach neuen Lösungen – und wie es scheint mit Erfolg. Vor Kurzem wurde in England ein Test mit einem neuen T-Zell-Impfstoff durchgeführt, der universelle Eigenschaften besitzt und zahlreiche Grippeviren gleichzeitig bekämpft. Die Unternehmer des Start-ups Vaccitech erhoffen sich nicht nur eine verbesserte Sicherheit, sondern auch eine Prävention für mehrere Jahre. Noch ist dieses Vorhaben in der Schweiz nicht spruchreif und demzufolge kämpft man hierzulande weiterhin gegen das Grippevirus, das sich stetig wandelt und seine Eigenschaften sehr rasch verändern kann.
Hausärzte stehen in der Verantwortung
Dr. Philippe Luchsinger, Facharzt für Allgemeine Medizin in Affoltern am Albis und Präsident Haus- und Kinderärzte Schweiz, fügt an: «Man darf nicht vergessen, dass die stetige Anpassung an den jeweils vorherrschenden Virustyp die Impfung auch zuverlässiger werden lässt, und die Kombination von drei oder neu auch vier Virustypen erhöht die Trefferquote zusätzlich. Die Immunisierung, die nur jene Teile enthält, welche für die Abwehr wichtig sind, vermindert zudem Nebenwirkungen bei gleicher Wirkung.»
Im Rahmen seiner Sprechstunden stehen Ängste vor Nebenwirkungen wie Rötungen oder Fieber, die eher selten auftreten, meist im Zentrum, doch diese würden nicht selten aufgrund falscher Informationen resultieren.
Pro Jahr impft der Hausarzt durchschnittlich zwischen 200 und 220 Patientinnen und Patienten. Nach mittlerweile 30 Jahren Erfahrung habe er bislang noch nie heftige Reaktionen oder gar bedrohliche Situationen erlebt. Die offiziellen Fach- und Berufsverbände der Hausärzteschaft und auch die Kinderärzte, die regelmässig auch via Plakat und Flyer informieren, empfehlen die Grippeimpfung.
Nach Ansicht von Dr. Luchsinger sind es vor allem komplementärmedizinisch arbeitende Ärzte, welche skeptisch eingestellt sind, allfällige Nebenwirkungen infrage stellen und darauf hinweisen, dass jeder Mensch auf Impfungen in Bezug auf Abwehrreaktionen anders reagiert. Zudem besteht ein gewisses Misstrauen aufgrund der darin enthaltenen Konservierungsstoffe auf Basis von Formaldehyd und Quecksilberverbindungen.
Professor Dr. Claudia Witt, Komplementäre und Integrative Medizin, Universität Zürich, steht Impfungen indes positiv gegenüber. «Zahlreiche Krebspatienten suchen uns auf – und nicht zuletzt deshalb lasse ich mich impfen, um diese ausreichend zu schützen. Das gesamte Führungsteam des Instituts sieht es ebenso und motiviert auch andere Mitarbeiter, diesem Beispiel zu folgen. Zudem achten wir sehr auf die Hygiene, desinfizieren regelmässig die Hände und tragen Mundschutz, wenn wir erkältet sind.» Personen, welche sich gegen eine Impfung entscheiden, sollten primär darum besorgt sein, ihre Mitmenschen nicht anzustecken.
Die Übertragungskette durchbrechen
Ein rücksichtsvolles Verhalten wird vor allem in England gross geschrieben in Form von konkreten Ansätzen. «Auf den britischen Inseln werden die Schulkinder geimpft, weil auch sie Viren vor der Erkrankung ausscheiden und das dazu führt, dass schliesslich die Eltern oder Geschwister angesteckt werden können. Wenn auf diese Weise eine Übertragungskette durchbrochen werden kann, lassen sich weitere Grippefälle gezielt verhindern. Studien aus den 1960er-Jahren zeigen ausserdem, dass ein solches Vorgehen in Japan mit Erfolg gekrönt war, doch als man damit aufgehört hat, stieg die Sterblichkeitsrate erneut an», so Dr. Witschi mit Nachdruck.
Nur 18 % der Schweizer sind geschützt
Der solidarische Akt steht im Mittelpunkt, aber ohne stetige Überzeugungsarbeit dürfte sich auch in den kommenden Jahren nur wenig ändern. Lediglich 18 % aller Schweizerinnen und Schweizer schützen sich derzeit aktiv gegen die Influenza. Tatsache ist auch, dass sich leider immer noch viele Pflegende gegen eine Impfung aussprechen. Die Gründe dafür seien lediglich persönliche Befürchtungen ohne wissenschaftlichen Hintergrund, so Dr.
Luchsinger.
Grundversorger an die Werbetrommel
Eine solche Reaktionsweise dürfte sich auch aus Arbeitgebersicht ungünstig auswirken, weil während der Grippe-Epidemie ein besonderer Einsatzwille gefordert ist und sich wohl kaum jemand darüber freut, wenn zusätzlich Personal ausfällt.
Doch auch nicht alle Hausärzte sprechen sich explizit für besagte Präventionsmassnahme aus. Das weiss Dr. Witschi und ergänzt: «Die diesbezüglich weniger engagierten Grundversorger sollten sich motivierte Berufskollegen zum Vorbild nehmen.»
Der gegenwärtige Impfstoff deutet ausserdem auf keine Knappheit hin im Gegensatz zur Hepatitis- oder Diphterie-Prophylaxe. Der Säuglingsimpfstoff reichte im vergangenen Sommer nicht aus und entsprechend gross war der Zeit-druck.
Ob genügend Vorrat oder nicht: Bei der Grippe-Impfung handelt es sich nicht um ein Obligatorium. Derweil bleibt dem Bundesamt für Gesundheit nichts anderes übrig, als die Menschen weiterhin darauf aufmerksam zu machen, dass die Grippeepidemie kurz bevorsteht – dies jedoch, ohne Angst zu verbreiten.