30. Mai 2017

Primäre Immundefekte werden zu selten erkannt

ZÜRICH – An der diesjährigen World PI Week warben Ärzte, Forscher und betroffene Patienten für mehr Aufmerksamkeit für die primären Immundefekte.


Wird ein Defekt des Immunsystems genetisch bedingt vererbt, spricht man von einem angeborenen oder primären Immundefekt (PID). Bisher wurden rund 300 genetische Defekte des Immunsystems beschrieben und ständig werden neue entdeckt. Es wird angenommen, dass bei 70–90 % der Menschen mit einem primärem Immundefekt diese «rare disease» nicht diagnostiziert wird. Die Grundkrankheit wird, wenn überhaupt, oft erst nach Jahren erkannt. Bei Patienten mit einem PID äussert sich die Krankheit häufig in Form von Infektionen, die trotz regelrechter Behandlung wiederholt auftreten.

Anlässlich einer Medienveranstaltung der Firma Shire konnten wir Dr. Peter Jandus, Facharzt FMH für Innere Medizin, Allergologie und Immunologie, Hôpitaux Universitaire de Genève, fragen, welche Rolle Hausärzte bei PID spielen.

?Medical Tribune: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Hausarzt mit einem PID konfrontiert wird, ist relativ gering. Bei welchen Symptomen sollten die Alarmsignale losgehen?


Dr. Jandus: Bei PID denkt man immer an schwer erkrankte Kinder, die nur mittels einer Knochenmark­transplantation überleben können. Aber von der Erkrankung sind nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene betroffen. PID-Patienten haben ein sehr heterogenes Erscheinungsbild und sind relativ schwierig anhand ihrer Symptome zu erkennen. Immer wiederkehrende schwere Infektionen der oberen und unteren Atemwege wie Otitiden, Sinusitiden oder Pneumonien mit langwierigen Heilungsprozessen trotz Antibiotika können Zeichen eines PID sein. Ferner können die PID durch die Dysregulation des Immmunsystems zu Tumoren oder schweren entzündlichen Krankheiten führen. Bei folgenden Befunden sollte ein PID in Betracht gezogen werden:

  • zwei oder mehr neue Sinusitiden innerhalb eines Jahres ohne Allergiebeschwerden
  • eine Pneumonie pro Jahr über einen Zeitraum von zwei oder mehreren Jahren hinweg
  • chronischer Durchfall mit Gewichtsverlust
  • rezidivierende virale Infekte wie grippale Infekte, Herpes, Warzen, Kondylome
  • rezidivierende tiefe Abszesse der Haut oder der inneren Organe
  • andauernde Pilzerkrankung der Haut oder anderswo
  • Infektionen durch opportunistische Bakterien, z. B. atypische Mykobakterien
  • Immundefekte in der Familie.


?Sollte der Hausarzt häufiger Immunglobuline bestimmen?


Dr. Jandus: Ja, die Immunglobulin-Bestimmung ist einfach und nicht sehr teuer. Die Herausforderung ist die Interpretation der Laborwerte.

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Wie sieht die Behandlung aus?


Dr. Jandus: Die Behandlung der PID besteht aus verschiedenen Phasen. In einem ersten Schritt ist die akute Infektion so schnell wie möglich mit Antibiotika, Antimykotika oder Viro­statika in den Griff zu bekommen. Im zweiten Schritt geht es darum, eine Prophylaxe zu etablieren mit dem Ziel, die Infektionsrate zu reduzieren. Impfungen gegen respiratorische Erreger wie Streptokokken, Hämophilus influenzae Typ B und Influenza sind hier empfohlen. Die Impfungen sollen, wenn immer möglich, erst im Rahmen der spezialisierten immunologischen Abklärung erfolgen. Lebendvakzine dürfen bei PID nicht eingesetzt werden. Je nach Immundefekt kann eine Prophylaxe mit Antibiotika, Antimykotika und Viro­statika erwogen werden. Patienten mit Antikörpermangelsyndromen werden mit Immunglobulinpräparaten substituiert. Schwere Immundefekte werden vorwiegend im Kindesalter, soweit geeignete Spender vorhanden sind, mit hämatopoetischer Stammzelltransplantation behandelt.

?Welchen Effekt haben die substituierten Immunglobuline?


Dr. Jandus: Immunglobuline haben zwei Wirkungen: Sie ersetzten fehlende IgG bei primären oder sekundären Antikörpermangelsyndromen und können immunmodulatorisch wirken. Die Therapie erfolgt entweder intravenös alle 3–4 Wochen durch Fachpersonen mit einemZeitaufwand von 1–4 Stunden oder wöchentlich subkutan durch den Patienten mit einem Zeitaufwand von etwa 1–2 Stunden pro Woche. Die Verabreichungsart hängt von der Zuverlässigkeit und den Vorlieben des Patienten ab. Die gezielte Behandlung mit Immunglobulinen kann erneute Infekte verhindern, die Lebensqualität und die Lebenserwartung der Betroffenen heben und die weitere Inanspruchnahme von Spitaldienstleistungen vermindern.

?Haben Sie eine Take-Home-Message für unsere Leser?


Dr. Jandus: Patienten mit häufigen Infekten, die schwer zu behandeln sind und ungenügend auf die Therapie ansprechen, sollten auf einen PID abgeklärt werden. Zwar sind PID selten, aber häufiger als gedacht. Eine frühzeitige Diagnose kann die Lebensqualität und die Lebenserwartung der betroffenen Patienten mit einer angepassten Infektionsprophylaxe erheblich verbessern.

Vielen Dank für das Gespräch!