Tipps für den empathischen Umgang mit Alkoholikern
Der Weg nach unten beginnt unmerklich. Eigentlich hat Herr M. in seinem Leben alles richtig gemacht: Schulabschluss, Ausbildung, Arbeit in der metallverarbeitenden Industrie, Heirat, zwei Kinder (jetzt 14 und 18 Jahre), ein Eigenheim gekauft, allerdings noch nicht abbezahlt. Doch dann begannen die Probleme, sodass er abends etwas mehr Alkohol trank, um abzuschalten und in den Schlaf zu finden.
Schlaf finden und abschalten in vielen Fällen das Motiv
Was war geschehen? Der Firma ging es wirtschaftlich schlechter. Alle Leiharbeiter wurden entlassen, die Übriggebliebenen mussten mehr stemmen, z.T. Doppelschichten fahren. Parallel baute Herr M. sein Häuschen um, die Kinder kamen in die Pubertät, man brauchte mehr Platz. Beim Fußball verletzte er sich am Knie, "dann war das auch zu Ende", er habe sowieso kaum Zeit für sein Hobby gehabt. Herr M. fühlte sich zunehmend gestresst, es kam zu Spannungen mit seiner Frau.
Die Wechselschichten fielen ihm immer schwerer. Ohne Alkohol war an Schlaf nicht mehr zu denken. Schließlich trank Herr M. auch unterwegs nach der Schicht und geriet prompt in eine Polizeikontrolle. "Dann war der Führerschein weg – zu Hause sowieso nur noch Krach."
Der Einwand: "Nicht jeder wird gleich zum Alkoholiker"
Eine typische Geschichte, kommentierte die Psychiaterin Professor Dr. Dunja Hinze-Selch von der Fachklinik Marienstift Dammer Berge in Neuenkirchen-Vörden. Schlafen können, Entspannung finden: So lautet in vielen Fällen das Motiv für den Alkoholkonsum. Wenn Belastungen beruflich und privat überhand nehmen und zudem der Ausgleich (z.B. Sport) wegfällt, brechen die Bewältigungskompetenzen zusammen.
Typisches eruierte die Psychiaterin auch in Herrn M.’s Familienanamnese: Der Vater hat immer getrunken, wenn er Stress hatte, die Mutter geraucht. Geredet wurde wenig, jeder musste selbst klarkommen. Es war wichtig, eine gute Leistung zu erbringen und ordentlich dazustehen. Der jüngere Bruder litt unter Epilepsie. Dann kam die demente Oma ins Haus: "Die Mutter hat sich um Oma und Bruder gekümmert, ich musste alles schaffen, ich war ja gesund."
"Schwierige Geschichte, ohne Frage", wandte ein Teilnehmer aus dem Auditorium ein, "aber nicht jeder wird deshalb Alkoholiker." Warum das manchen passiert, hat mit Genetik, Epigenetik und Lerngeschichte zu tun, erklärte Prof. Hinze-Selch. Forschungsdaten zeigen, dass Suchtbetroffene "ein anderes Gehirn" haben mit geschwächter Stresstoleranz und verminderter Fähigkeit zum Belohnungsaufschub.
Sowohl intrauterine Einflüsse (s. Kasten) als auch ein reduziertes emotionales Bindungserleben (bei Kindern, die ohne eine stabile, enge Bezugsperson aufwuchsen) führen zu entsprechenden Veränderungen im Frontalhirn, so die Referentin.
Gute Chancen nach qualifiziertem Entzug
Bei diesen wenig belastungskompetenten Persönlichkeiten, bei denen Sucht und Stress eng vernetzt sind, genügt einfaches "Trockenlegen" nicht. Man muss nach dem Entzug auf Verhaltensänderung hin arbeiten, so die Kollegin, sodass der Patient lernt, eingefahrene Schleifen im Gehirn zu durchbrechen, Druck auszuhalten und den Belohnungsaufschub konstruktiv zu gestalten.
Zurück zum konkreten Fall von Herrn M.: Er kam mit suchtvulnerablem Gehirn zur Welt (rauchende Mutter) und hatte emotional wenig Bindung. Seine Stresskompetenz entwickelte sich nur unzureichend, er war jedoch in der Lage, unter günstigen Bedingungen seine Leistungsstärkeorientierung gut umzusetzen (fester Job, Familie, Haus). Doch bei Überlastung reichten die eigenen Ressourcen nicht aus, als schnell verfügbarer Ersatz diente der Alkohol.
Herr M. ist also nicht "selbst schuld", sondern braucht multiprofessionelle Hilfe, unterstrich Prof. Hinze-Selch. Wenn er mit qualifiziertem Entzug den Weg in das Hilfesystem findet, bestehen gute Chancen, dass er sein Leben nachhaltig in den Griff bekommt.
Damit die interdisziplinäre Therapie langfristig gelingt, dürfe man die Psychiatrie nicht als Endstation und Disqualifizierung verkaufen. "Beschreiben Sie sie vielmehr als spezialisiertes Behandlungsangebot." Zumal bei mindestens jedem zweiten Suchtbetroffenen psychiatrische Belange als Wegbereiter und Aufrechterhalter der Sucht fungieren (s. Kasten). Möglicherweise kann der Hausarzt auch Alternativen zum hochprozentigen Beruhigungsmittel anbieten, z.B. schlafanstoßende Antidepressiva.
Die nächsten Schritte gemeinsam besprechen
Wichtig: Mit dem Patienten gemeinsam die nächsten Schritte erarbeiten und fragen, was er braucht (wöchentliche Termine in der Praxis, Krankmeldung ja/nein). "Erkennen Sie an, dass der Patient eine große Aufgabe auf sich nimmt", appellierte die Psychiaterin. Nicht mehr zu trinken bedeute, lange geübtes Verhalten aufzugeben: "Das fordert Zeit, Anstrengung und Mut."
Quelle: 122. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin