Wenn die Darmflora aus den Fugen gerät
Jeder von uns trägt im Magen-Darm-Trakt 1–2 kg Bakterien mit sich herum, und solange die kommensale Mikroflora ihre Aufgaben erfüllt, kommt man sich nicht in die Quere. Dieses Mikrobiom ist nicht nur in den Verdauungsprozess involviert. Heute weiss man, dass es auch wichtige protektive, immunologische und metabolische Funktionen ausübt. Störungen der mikrobiellen Besiedlung können weitreichende Konsequenzen haben – bis hin zu tödlichen Komplikationen.

Am 55. Ärztefortbildungskurs berichtete Professor Dr. Stephan Vavricka, Abteilungsleiter Gastroenterologie und Hepatologie am Triemlispital Zürich, über praxisrelevante Aspekte der Mikrobiomforschung. Der Darm als Hauptkontaktfläche zur Umwelt verfügt über eine Oberfläche von etwa 500 m2 – demgegenüber haben die Lungen mit 100 m2 oder die Haut mit knapp 2 m2 geradezu bescheidene Ausmasse. Die mikrobielle Besiedlung nimmt vom Magen mit 101–103 CFU/ml (Kolonie bildende Einheiten) über Duodenum, Jejunum und Ileum stark zu und erreicht im Kolon 1012 CFU/ml.
Fast unvorstellbare Zahl an Bakterien im Darm
Das Mikrobiom ist definiert als Gesamtheit der kommensalen Mikroflora – mit starker Dominanz der Bakterien. Pilze, Viren und Protozoen spielen demgegenüber eine untergeordnete Rolle. Als Darmflora bezeichnet man den im Gastrointestinaltrakt lokalisierten Teil des Mikrobioms.
Die im Gastrointestinaltrakt (GI-Trakt) beheimateten Bakterien übertreffen mit 1014 bis 1015 Bakterien die Zahl aller Zellen im menschlichen Körper, und wir tragen mehr Bakterien in uns als die Anzahl aller Menschen, die jemals gelebt haben, erläuterte Prof. Vavricka. Bei diesen Bakterien handelt es sich überwiegend um strikte Anaerobier, wobei zwischen 1000 und 10 000 unterschiedliche Bakterienarten den Darm besiedeln können. Jeder Mensch verfügt über eine individuelle Darmflora. In einer Stuhlanalyse bei 124 Europäern wurden mehr als 1000 verschiedene Bakterienspezies gefunden, pro Individuum waren es ca. 160 Arten.
Mitentscheidend für Übergewicht
Das Mikrobiom ist für drei Hauptaufgaben zuständig:
- Protektive Funktion: Es verdrängt pathogene Keime und sichert die mikrobielle Homöostase im GI-Trakt durch eine bedarfsgerechte Produktion antimikrobieller Faktoren.
- Immunologische Funktion: Das Mikrobiom ist an der Entwicklung des Immunsystems beteiligt und an der Induktion von IgA.
- Metabolische Funktion: Interaktion mit dem Stoffwechsel, Synthese von Vitaminen und Beteiligung an der Metabolisierung und Ausscheidung von Medikamenten. Ausserdem unterstützt das Mikrobiom die Energiegewinnung aus der Nahrung.
Das führte den Referenten zu einem aktuellen Thema: «dickmachende» Darmbakterien. Schlanke Personen weisen eine Darmbesiedlung auf, bei der Bacteroidetes gegenüber Firmicutes dominieren, während bei Adipösen das Verhältnis umgekehrt ist. Bei Firmicutes-Bakterien ist die Kapazität gesteigert, aus der Nahrung Energie aufzunehmen. Bacteroidetes spp. und Firmicutes spp. repräsentieren > 90 % der intestinalen Flora. Tierexperimentelle Studien unterstützen die Annahme, dass die Zusammensetzung des Mikrobioms mitentscheidet, ob jemand zu Übergewicht neigt oder nicht.
Gestörte Bakterienflora führt zu Erkrankungen
Prof. Vavricka wies auf Assoziationen zwischen der bakteriellen Darmbesiedlung und einer Reihe von nicht infektiösen Erkrankungen hin. So scheint nicht nur bei entzündlichen Darmerkrankungen (IBD), metabolischem Syndrom und beim Reizdarm-Syndrom (IBS) ein Link zum Mikrobiom zu bestehen, sondern auch bei Patienten mit Autismus, Rheumatoider Arthritis oder Alkoholismus. Doch dieses Gebiet wird noch kontrovers diskutiert.
Eine sehr gute Evidenz hingegen liegt für Mikrobiom-Veränderungen und Infektionen mit Clostridium difficile vor. Eine erhöhte Gefahr für eine Infektion mit C. difficile besteht bei höherem Alter, bei Komorbidität, während bzw. nach einem Spitalaufenthalt sowie postpartal (Sectio, Chorioamnionitis). Als weitere wichtige Risikofaktoren gelten antibiotische Behandlung, Gabe von PPI und vorangegangene C.-difficile-assoziierte Diarrhö (CDAD). Das entscheidende Problem bei der Behandlung dieser Infektionen ist die hohe Rezidivrate. Diese liegt bei etwa 25 %. Als Hauptgründe für den Rückfall nannte Prof. Vavricka die Dysbiose der Mikroflora, die ungenügende Elimination von Sporen, die unzureichende Immunantwort und die ungenügende Behandlung der initialen Infektion (für die Therapie kommen Metronidazol, Vancomycin und Fidaxomycin infrage).
Stuhltransplantation als Hoffnungsträger
Die Stuhltransplantation (Fecal Microbiota Transplantation, FMT) hat eine lange Tradition. Bereits im 4. Jahrhundert n. Chr. wird sie erwähnt – als Therapie bei Lebensmittelvergiftung und schwerer Diarrhö. 1958 wurde sie erstmals bei pseudomembranöser Kolitis verwendet. Die Überlegungen hinter der FMT: Man hat ein durch Antibiotika zerstörtes mikrobielles Ökosystem im Darm, das durch pathogene Keime überwuchert wird. Durch Probiotika kann man versuchen, das gestörte Gleichgewicht wieder herzustellen. Man kann aber auch eine FMT durchführen, was mit der Transplantation eines gesunden Ökosystems vergleichbar ist.
In randomisierten kontrollierten Studien zeigte sich ein Benefit der FMT bei C.-difficile-Infektionen und bei Insulinresistenz bzw. Typ-2-Diabetes. In kasuistischen Serien sah man positive Effekte bei IBD, IBS, Multipler Sklerose, chronischem Fatigue-Syndrom und idiopathischer thrombozytopenischer Purpura.
55. Ärztefortbildungskurs in Davos