Wie moderne Technik Blinde sehen lässt
Bei der Retinitis pigmentosa handelt es sich um eine Erbkrankheit, die zum langsamen Absterben der Photorezeptoren im Auge führt. Betroffene kommen meist sehend zur Welt, im Laufe der Zeit verengt sich das Gesichtsfeld allmählich. Bereits im frühen Erwachsenenalter sehen sie meist nur noch „wie durch eine enge Röhre“, später droht vollständige Erblindung. Seit fast 20 Jahren wird an künstlichen Systemen geforscht, um diesen Patienten die Sehkraft zumindest teilweise zurückzugeben, berichtete Prof. Szurman gegenüber Medical Tribune.
Stromimpulse reizen die Sehnerven
Das Prinzip ist eigentlich einfach: Eine Kamera im Brillengestell nimmt die Umgebungsbilder auf und schickt diese kabellos an einen Computerchip im oder am Auge. Dort werden die Bilder in elektrische Signale umgewandelt und an eine winzige Platine, die auf oder unter der Retina implantiert ist, weitergesandt. Die elektrischen Impulse bilden jetzt das Kamerabild als Muster ab und reizen die unter der Retina liegenden Nerven. Diese leiten die Impulse in das Gehirn weiter. Dort können die Informationen in ein Abbild der Realität umgewandelt werden.
Zwei führende Zentren in Deutschland arbeiteten zunächst unabhängig voneinander an verschiedenen Systemen: In Köln erforschte man ein epiretinales Retinaimplantat, in Tübingen testeten Forscher subretinale Elektroden.
Zunächst musste die Machbarkeit solcher Implantate geklärt werden: Verträgt der Körper langfristig die Materialien, die eingepflanzt werden? Richtet der Strom, wenn er dauerhaft ins Auge gesandt wird, vielleicht Schäden an? Können Techniker funktionsfähige Elektroden so miniaturisieren, dass sie ins Auge passen? Inzwischen wurde das epiretinale System kommerziell eingeführt (Argus II-Retinaprothesensystem) und auch das subretinale Implantat ist zugelassen (Alpha IMS).
100 Blinde tragen schon ein Retinaimplantat
Weltweit sind bereits etwa 100 Patienten mit einem Retinaimplantat versorgt worden. Insgesamt liegen Erfahrungen mit mehr als 170 Personenjahren vor. Prof. Szurman selbst hat seit 2007 bei neun Patienten Implantationen – mit subretinalen und epiretinalen Systemen – durchgeführt.
Für den Erfolg sind realistische Erwartungen des Patienten mitentscheidend. Nach der Operation kann der Betroffene nicht sofort wieder sehen. „Das ist nicht wie das Einschalten eines Bildschirms“, erläuterte der Experte.
Das Sehen muss erlernt werden: Es dauert bis zu einem Jahr, bis das Gehirn die elektrischen Impulse in Muster und Formen umwandeln kann. Daher ist die Rehabilitation in Sulzbach auch auf diese Dauer angelegt – der Patient kommt einmal wöchentlich zum Mobilitäts- und Alltagstraining.
Erfahrungsgemäß kommen blinde Patienten in ihrer häuslichen Umgebung mit Tricks recht gut zurecht. Probleme und Stress entstehen oft erst, wenn sie die Wohnung verlassen und sich draußen orientieren müssen. Der Langstock kann zwar helfen, an einer Hauswand oder einem Bürgersteig entlangzugehen. Das parkende Auto oder den Passanten auf dem Gehweg bemerken Blinde oft erst, wenn sie dagegenstoßen.
Mit einem Netzhautimplantat können betroffene Patienten Umrisse wieder sehen. Und auch in geschlossenen Räumen bieten die neuartigen Sehsysteme Vorteile: Türumrisse und Fenster werden erkannt, die Orientierung fällt so leichter. Außerdem sind Personen, deren Größe und typische Merkmale, z.B. lange oder kurze Haare, erkennbar.
Implantat ersetzt fehlende Lichtrezeption
Doch die Forschung ist noch nicht so weit, dass Patienten mit der elektronischen Hilfe richtig sehen, lesen oder fernsehen könnten. Aktuell bemüht man sich darum, die Auflösungen zu verbessern. Die in Argus II verwendete Platine beispielsweise hat 60 Elektroden – somit kann der Patient höchstens 60 Punkte diskriminieren.
Das größte Problem aber ist laut Prof. Szurman das Gesichtsfeld. Bislang sieht der Kranke nur in einem 20-Grad-Winkel, das heißt, er muss seine Umgebung ständig mit Kopfbewegungen abscannen. Bewegungsabläufe sind hingegen recht gut wahrnehmbar, erklärte der Experte.
Indiziert sind Retinaimplantate bei Patienten mit Retinitis pigmentosa. Aber auch bei anderen, meist erblichen Netzhauterkrankungen mit Untergang der Lichtrezeption können die Systeme eingesetzt werden. Voraussetzung ist, dass Betroffene früher richtig sehen konnten.
Die häufige altersabhängige Makuladegeneration (AMD) gilt bisher allerdings nicht als Indikation für eine Implantation. AMD-Patienten sehen meist in der Peripherie noch passabel und können sich daher im Raum gut orientieren. Es hapert vor allem beim Scharfsehen. Zurzeit reicht die Auflösung der Implantationssysteme aber nicht, um diesen Kranken zu helfen – noch nicht!
Quelle: Medical-Tribune-Bericht