Diskussion um Gicht und Hyperurikämie
Die Akutdiagnose „Gichtanfall“ wird meist klinisch gestellt: hoch akuter Beginn, nicht selten aus dem Schlaf heraus, starke Schmerzen, Schwellung, Rötung und Überwärmung des Gelenks. Die betroffene Region ist häufig so empfindlich, dass der Patient nicht einmal den leichten Druck der Bettdecke erträgt.
Die Gicht befällt gern vorgeschädigte Gelenke – wahrscheinlich, weil dort oft eine latente Entzündung schwelt, die das Milieu ins Saure verschiebt, und daher die Harnsäure dort leichter ausfällt. Die erste Attacke betrifft in acht von zehn Fällen die untere Extremität und bei jedem zweiten Patienten das Großzehengrundgelenk. Goldstandard in der Diagnostik ist der Nachweis von Uratkristallen im Gelenkpunktat, der die Gicht definitiv bestätigt.
Harnsäure messen im Anfall so gut wie nutzlos
Da aber nicht jedes Gelenk leicht zu punktieren ist und so mancher Kollege sich scheut, in Gelenke zu stechen, empfehlen drei britische Experten um Professor Dr. Edward Roddy von der Universität Keele in einem Review dies nur, wenn sich die Gicht atypisch präsentiert oder wenn es darum geht, andere Kristall-Arthropathien abzugrenzen oder wenn eine septische Gelenkentzündung vorliegen könnte – eine wichtige und gefährliche Differenzialdiagnose.1 Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) rät übrigens Hausärzten von der Gelenkpunktion ab.2
Nahezu nutzlos ist es im akuten Anfall, die Harnsäure im Serum zu messen. „Die Spiegel liegen bei etwa einem Drittel der Patienten mit akuter Gicht im Normbereich“, erklärt Dr. Anne-Kathrin Tausche von der Medizinischen Klinik III der Universitätsklinik Dresden. Der Grund: Die Nieren fahren bei akut entzündlichen Prozessen die Harnsäureausscheidung hoch, so auch in der Gichtattacke.
Erste Wahl im akuten Gichtanfall: NSAR
Die Akuttherapie soll Schmerzen und Schwellungen rasch zum Verschwinden bringen. Ruhigstellen und Kühlen sind bewährte Hausmittel.
Daneben bringen ein rasch anflutendes NSAR in voller Dosierung oder Colchizin Linderung.
Nicht steroidale Antirheumatika gelten – falls sie nicht wegen gastrointestinaler, renaler oder kardialer Probleme kontraindiziert sind – als erste Wahl, gegebenenfalls zusammen mit einem Protonenpumpenhemmer zum Magenschutz.
Niedrige Colchizin-Dosis besser verträglich
Colchizin hindert die Leukozyten daran, die Uratkristalle zu phagozytieren, und unterdrückt zellvermittelte Immunreaktionen. Es rangiert aber wegen der schlechten Verträglichkeit auf Platz zwei, außerdem können andere Medikamente seine Toxizität erhöhen.
Colchizin muss allerdings nicht so hoch dosiert werden wie früher empfohlen. „1,0 mg als Initialdosis, eine Stunde später noch einmal 0,5 mg reichen in der Akutsituation völlig aus und die Patienten vertragen es wesentlich besser“, sagt Dr. Tausche im Gespräch mit Medical Tribune.
Intraartikuläre Kortikosteroide wirken schnell und effektiv, vermeiden dabei weitgehend systemische Effekte. Allerdings ist die Punktion eines schmerzhaften Gelenks – siehe oben – nicht jedermanns Sache, das gilt natürlich auch für Patienten.
Alternativ können Steroide oral verabreicht werden. Laut DEGAM-Empfehlung sind NSAR und Steroide (z.B. Prednisolon 40 mg/Tag über fünf Tage) per os Strategie der Wahl, Colchizin kommt für sie allenfalls bei Kontraindikationen infrage.
Gewicht reduzieren ja, aber keine Crash-Diät
Dass man Gichtpatienten raten wird, mögliche Trigger langfristig zu meiden, ist klar. Gewichtsreduktion – aber bitte nicht per Crash-Diät, das könnte Attacken auslösen –, maßvoller Umgang mit Alkohol und purinarme Kost senken das Risiko eines erneuten Anfalls.
Der Wert einzelner diätetischer Maßnahmen, beispielsweise ein verstärkter Konsum von Milchprodukten oder Kaffee, ist zu wenig geklärt, als dass sich daraus Empfehlungen ableiten ließen, meint Dr. Tausche.
An der Frage, wer wann eine harnsäuresenkende Medikation erhalten sollte, scheiden sich derzeit die Geister. Es gibt die Position, sofort nach dem ersten Gichtanfall zu beginnen, weil die Mehrzahl der Patienten ohnehin weitere Attacken erleiden wird – rund 80 % binnen zwei Jahren –, die Kristalllast anfangs gering und die Gelenke noch unbeschädigt sind.
Auf der anderen Seite steht beispielsweise die DEGAM, die zum Therapiebeginn erst bei mehr als zwei Attacken pro Jahr rät.2 „Das ist wohl zumindest teilweise dem Wunsch geschuldet, Interaktionen und Nebenwirkungen zu vermeiden“, vermutet Dr. Tausche.
Medikamente bei chronischer Gicht mit Urolithiasis und Tophi
Ihrer Ansicht nach sollte unter bestimmten Bedingungen schon nach dem ersten Gichtanfall behandelt werden, z.B. wenn Uratkristalle im Gelenk nachgewiesen wurden, der Patient noch jung und die Familienanamnese positiv ist.
Einig ist man sich immerhin, dass eine parallel zur Gicht bestehende Urolithiasis ebenso wie das Vorliegen von Tophi als Zeichen der chronischen Gicht die Indikation zur medikamentösen Harnsäuresenkung begründen.
Auch bei den Therapiezielen gibt es keinen Konsens: Die DEGAM empfiehlt pauschal als Standardtherapie 100 bis 300 mg Allopurinol und nur, wenn dies die Krankheitslast nicht ausreichend reduziert, eine zielwertorientierte Senkung des Harnsäurespiegels auf unter 6,5 mg/dl (387 µmol/l).
Ganz konsequent ist sie hier allerdings nicht, denn sie mahnt zu regelmäßigen Kontrollen der Harnsäure i.S., anfangs alle drei Monate, später jährlich, wenn der Zielwert erreicht ist.
Harnsäure-Senkung anfangs nur mit Anfallschutz
Die britischen Experten dagegen raten im Einklang mit internationalen Leitlinien, die Harnsäure grundsätzlich unter 6,0 mg/dl (360 µmol/l) zu senken und zu halten, weil dies in Studien zu einem besseren und schnelleren Effekt auf Anfallsfrequenz, Tophi sowie Kristalllast geführt hat.
Übrigens gibt es inzwischen Stimmen, die zumindest in den ersten ein bis zwei Jahren für noch tiefere Zielwerte von bis zu 5 mg/dl (300 µmol/l) plädieren, um die Kristallelimination aus den Geweben zu beschleunigen. „Das kann bei schwerer tophöser Gicht wahrscheinlich sinnvoll sein, weil es sonst ewig dauert, die Harnsäuredepots aufzulösen“, kommentiert Dr. Tausche.
In jedem Fall sollte die Behandlung anfangs von einer abschirmenden Medikation mit NSAR oder Colchizin begleitet werden, um zu verhindern, dass die aus den Geweben gelöste Harnsäure neue Attacken auslöst.
Harnsäuresenkung: Auslassversuch erlaubt?
Als Mittel der ersten Wahl gelten die urikostatisch wirkenden Xanthin-oxidasehemmer Allopurinol und Febuxostat. „90 % der Patienten vertragen Allopurinol ohne Probleme“, konstatieren Prof. Roddy und Kollegen. Auch für die DEGAM steht Allopurinol in der ersten Reihe und sollte bei mangelnder Wirksamkeit aufdosiert werden, bevor man zu Alternativen greift, zu denen sie – eine normale Nierenfunktion vorausgesetzt – auch das Urikosurikum Probenecid zählt.
„Die Therapie sollte lebenslang erfolgen“ – da sind sich DEGAM und britische Experten einig. Ein Auslassversuch könne erfolgen, wenn der Patient langjährig gut kontrolliert sei, meint die DEGAM, wobei „langjährig“ mindestens fünf Jahre bedeutet. Auslassversuche kommen im britischen Konzept dagegen nicht vor, wohl aber eine Dosisadjustierung, wenn der Patient als kristallfrei und damit „geheilt“ angesehen werden kann.
Ein paar Basisdaten zu Gicht und Hyperurikämie
- Mit einer Prävalenz von etwa 2 % ist die Gicht die häufigste Form der entzündlichen Arthritis – Tendenz: steigend. Das liegt einerseits an der steigenden Lebenserwartung, andererseits am Lebenswandel. Die Hyperurikämie zählt zwar nicht mehr zu den konstituierenden Faktoren des metabolischen Syndroms, ist damit aber eng verbunden. Hypertonie und Dyslipidämie zählen ebenso wie Übergewicht zu den Risikofaktoren, außerdem finden sich gehäuft Begleiterkrankungen wie chronische Nierenfunktionsstörungen, Diabetes, Herzinsuffizienz und koronare Herzkrankheit.
- Männer sind häufiger und in jüngeren Jahren betroffen als Frauen, bei denen Gichtattacken vor dem 65. Lebensjahr eine Rarität darstellen.
- Die Risikofaktoren der Gicht und Auslöser akuter Attacken sind bekannt: ungesunde Ernährung, zu viel Alkohol, vor allem Bier und Hochprozentiges (nicht aber Wein), Fasten oder Völlerei, Nierenfunktionsstörungen und bestimmte Arzneimittel, vor allem ASS, Schleifendiuretika und Thiazide. Auch süße Softdrinks erhöhen das Risiko, vor allem wenn sie Fruktose enthalten. Milchprodukte und Kaffee scheinen eher zu schützen.
Quelle:
- Edward Roddy, BMJ 2013; 347, online first
- DEGAM S1-Handlungsempfehlung: www.leitlinien.degam.de