23. Nov. 2012Medikamentenschäden sind teilweise irreversibel

Chemotherapie: Auf Nervenschäden achten

Für Medikamenten-induzierte Polyneuropathien gibt es charakteristische Schädigungsmuster, erklärte Professor Dr. Fedor Heidenreich von der Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie am Diakoniekrankenhaus Henriettenstiftung in Hannover beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.

Die typischen Merkmale:

  • sensible Fasern häufiger betroffen als motorische,
  • axonale Schädigung ausgeprägter als demyelinisierende,
  • Neuropathie meist symmetrisch aufsteigend,
  • Schmerzfasern häufig beteiligt,
  • autonome Beteiligung möglich,
  • evtl. Vorderhornzellen oder Hinterstrangganglien mit geschädigt (sensorische Ataxie).

Man sollte immer dann an eine Medikamenten-induzierte Polyneuropathie (PNP) denken, wenn eine zeitliche Assoziation zwischen dem Auftreten der nervalen Symptomatik und der Medikamentengabe besteht, betonte Prof. Heidenreich. Ob sich eine PNP entwickelt und wie stark sie ausgeprägt ist, hängt von der Dosis des verwendeten Medikamentes ab. Wird dieses abgesetzt oder reduziert, bildet sich oft, wenn auch langsam, die neurologische Symptomatik zurück. In manchen Fällen sind die Nerven allerdings irreversibel geschädigt.

Neuropathie schon nach der ersten Taxan-Dosis

Einige Patienten scheinen eine genetische Suszeptibilität für die Entwicklung einer PNP unter bestimmten Medikamenten zu haben. Andere tragen durch Komorbiditäten ein erhöhtes Risiko. Krebspatienten entwickeln durch die eingesetzten Zytostatika bzw. Chemotherapeutika besonders häufig eine Polyneuropathie.

Deren Charakteristika unterscheiden sich je nach Medikament. Taxane (Paclitaxel und Docetaxel) werden unter anderem beim Ovarial-, Lungen- und Prostatakarzinom eingesetzt. Sie können eine progrediente, überwiegend sensorische Neuropathie mit Schmerzen und Parästhesien hervorrufen, die sich oft bereits nach der ersten Dosis entwickeln, erklärte der Kollege. Die neuropathischen Symptome bessern sich erst Monate nach Therapieende.

Polyneuropathie-Risiko steigt bei Kombination von Chemotherapeutika

Im Hinblick auf die Polyneuropathie addieren sich die Effekte von Taxanen und Cisplatin, berichtete Prof. Heidenreich. Patienten, die diese Kombination erhalten, erkranken zu 20 % an einer PNP. Eine sichere Möglichkeit, die Nervenschädigung zu verhindern, gibt es nicht – d.h., der Patient muss die Nebenwirkung letztlich in Kauf nehmen.

Bei der Therapie mit Vinca-Alkaloiden (Vincristin, Vindesin, Vinblastin) bildet das Auftreten einer Neuropathie den dosislimitierenden Faktor. Bei einer Vincristin-Dosis von 1,4 mg/m2 pro Woche – „ein durchaus geläufiges Schema“ – entwickelt jeder zweite Patient eine PNP, wobei auch das Dosisintervall von Bedeutung ist.

Chemotherapie: Mehr Nervenläsionen bei Diabetikern

Patienten mit nervaler Vorschädigung, z.B. einer subklinischen diabetischen Neuropathie, erleiden häufiger neurotoxische Effekte als „nervengesunde“. In aller Regel bilden sich die durch Vinca-Alkaloide hervorgerufenen Nervensymptome nach Absetzen bzw. Abschluss der Therapie zurück.

Die dritte wichtige Substanzgruppe bilden die Platin-Derivate, zu denen Cisplatin, Carboplatin und Oxaliplatin gehören. Sie rufen eine überwiegend sensorisch ataktische PNP hervor. Schmerzen oder Muskelschwäche bestehen bei den betroffenen Patienten nicht. Die Neuropathie beginnt nach mehreren Zyklen von je 75 mg/m2.

Rückbildung kann neun Monate dauern

Parästhesien drohen nach einer kumulativen Dosis von 300 mg/m2, bei 600 mg/m2 ist bereits eine Neurotoxizität Grad II (s. Kasten) erreicht. Bei Dosierungen von mehr als 500 mg/m2 muss man mit einer chronischen Neuropathie rechnen. Meist bessern sich die Symptome nach Absetzen im Verlauf von drei bis neun Monaten. Auf diesen langen Zeitverlauf sollte man bei der Aufklärung hinweisen, riet Prof. Heidenreich.

Als weitere wichtige Chemotherapeutika, die zu Nervenschäden führen können, nannte der Experte u.a. Alkylanzien (Ifosfamid, Cyclophosphamid, Procarbazin), Cytosin-Arabinosid (in hohen Dosen), Etoposid und Bortezomib (gemischte reversible Polyneuropathie in 37 %).

Folgende Medikamentengruppen führen am häufigsten zu Polyneuropathien:

  • Zytostatika
  • Chemotherapeutika
  • Antibiotika (u.a. Chloramphenicol, Nitrofurantoin, Sulfonamide, Isoniazid)
  • Antikonvulsiva (Phenytoin)
  • Psychopharmaka (Trizyklika, Lithium, Disulfiram)
  • Andere (z.B. Nucleosid-Analoga, Thalidomid, Amiodaron)

Viele Krebspatienten, die eine Chemotherapie erhalten, entwickeln im Verlauf eine Polyneuropathie.

Quelle: Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie 2012