Kognitive Defizite: 4-Säulen-Konzept für die Praxis
Das Vorhandensein von Beta-Amyloid und Tau-Protein in den Gehirnen von Alzheimer-Betroffenen schien über Jahrzehnte der Schlüssel für die Therapie der Demenz zu sein. Doch diese Forschungsrichtung erwies sich bisher – zumindest hinsichtlich ß-Amyloid – als Sackgasse. Professor Dr. Reto W. Kressig, Ärztlicher Direktor, Universitäre Altersmedizin Felix Platter, Basel, plädierte an einem Workshop anlässlich des 59. Ärztekongresses für ein hausärztliches 4-Säulen-Konzept für Patienten mit kognitiven Defiziten.
Auch wenn mit dem DSM-5 der Demenzbegriff als solcher abgeschafft wurde und nur noch von mehr oder weniger schweren neurokognitiven Störungen gesprochen wird, stellen diese in der hausärztlichen Praxis unverändert eine grosse Herausforderung dar. Denn nach wie vor gelingt es lediglich, den Verlauf einer Demenz etwas zu modifizieren, nicht aber eine demenzielle Entwicklung zu verhindern oder im Frühstadium zu stoppen.
Das DSM-5 unterscheidet leichte (MCI) von schweren neurokognitiven Störungen, welche die folgenden Kriterien erfüllen:
- Bei der leichten Form weicht die Kognition um höchstens zwei Standardabweichungen von einem kognitiven Normalbefund ab, eine Kompensation ist möglich und Betroffene leben noch unabhängig.
- Bei einer schweren Form (früher: Demenz) beträgt die Differenz mehr als zwei Standardabweichungen, gleichbedeutend mit fehlenden Kompensationsmöglichkeiten und Notwendigkeit einer Betreuung.
Kommt es zu Hirnleistungsstörungen, betreffen diese jedoch nicht nur die Kognition, sondern es treten auch Defizite in den emotionalen und sozialen Fähigkeiten auf, die mit Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen assoziiert und für Betreuungspersonen äusserst belastend sind. Prof. Kressig betonte auch, wie wichtig die Selbsteinschätzung der kognitiven Performance ist: Bei 25 % derjenigen, die an einer subjektiv wahrgenommenen, objektiv aber nicht nachweisbaren Abnahme der kognitiven Leistungsfähigkeit (SCI) litten, entwickelte sich in den folgenden sechs Jahren eine Demenz.
Jüngere Patienten in einer Memory Clinic abklären
Eine erste Abklärung, die früher mit MMSE (Mini-Mental State Examination) und Uhrentest erfolgte, wurde inzwischen aufgrund des damit verbundenen erheblichen Zeitaufwands weitgehend vom «Case Finding» mit Apps wie dem BrainCheck abgelöst. Die Trennschärfe wird mit 89 % angegeben. Bei jüngeren Patienten mit guter Fitness und SCI plädierte Prof. Kressig für eine fachärztliche Abklärung, beispielsweise in einer Memory Clinic.
Die vier Pfeiler eines modernen hausärztlichen Demenz-Managements umfassen als notwendige Schritte die frühe Diagnose, mit Assessment und Staging, sowie eine regelmässige Anpassung aller Massnahmen an Patienten, Betreuer und Umgebungsfaktoren (Säule 1). Die Säule 2 betrifft nichtmedikamentöse Strategien, denen inzwischen ein beachtlich hoher Stellenwert beigemessen wird. In Säule 3 sind die (wenigen) evidenzbasierten pharmakologischen Therapien zusammengefasst und die Säule 4 schliesslich betont die Bedeutung von Angehörigen, Betreuern und gesamtem Umfeld.
Nichtpharmakologische Interventionen: Die finnische FINGER-Studie lieferte Belege dafür, wie Lebensstilveränderungen bei gesunden Demenz-Hochrisikopersonen die Hirnleistung steigern können. Körperliche Aktivität und Musikinterventionen mildern primär die psychosozialen Verhaltensauffälligkeiten von Demenz-Kranken, was auch den Betreuern und Angehörigen zugutekommt. Als besonders wirksam für den längst möglichen Erhalt der körperlichen Unabhängigkeit werden körperliche Aktivität in Kombination mit einer proteinreichen (1,2–1,5 g/kg KG/Tag), allenfalls mit Protein-Supplementen und Vitamin D (24.000 E/Monat) ergänzten Ernährung eingestuft.
Rolle der Medikamente: Bei Patienten mit MCI empfiehlt Prof. Kressig eine Therapie mit Ginkgo biloba (240 mg/Tag). Bei früher Demenz kommt ein Cholinesterasehemmer, beispielsweise als Patch, in Frage. Bei klinischer Verschlechterung kann frühestens nach sechs Monaten die Dosis weiter erhöht werden. Sinkt der MMSE-Punktwert unter 20, lässt sich durch zusätzliche Gabe von Memantin der Pflegeheimeintritt hinauszögern. Die Responderrate ist bei allen drei Substanzklassen hoch, die NNT liegt unter 10. Durch eine umfassende Intervention lässt sich der Krankheitsverlauf günstig beeinflussen, mit Erhalt von Funktionalität und Selbständigkeit.
Demenz: Zahlen und Fakten
In der Altersgruppe 85+ ist jeder Dritte von einer neurokognitiven Störung betroffen. Die Demenz vom Alzheimer-Typ (AD) dominiert mit 55 %, gefolgt von vaskulären Demenzformen (15 %). In der Schweiz geht man aktuell von rund 155.000 Demenz-Patienten und knapp einer halben Million mitbetroffenen Angehörigen aus. Zwei Drittel der von Demenz Betroffenen sind Frauen und die Hälfte aller Patienten haben keine fachärztliche Diagnose, so Prof. Kressig.