27. Mai 2020

Gestorben wird dann übermorgen

Bei uns darf man alles Mögliche. Nur nicht sterben. Sterben ist nicht akzeptabel. Deshalb hängt auch in jedem Pflegeheim ein Defibrillator und jeder Achtundneunzigjährige mit Lebermetastasen, drei Schlaganfällen und Alzheimer muss zurück ins Leben geschockt werden. Sterben an Seuchen oder Infektionen geht schon überhaupt gar nicht. Das ist sowas von voriges Jahrhundert. Da ging das noch. Und in den meisten Gegenden dieser Welt geht das auch heute noch. In Entwicklungsländern ist Sterben an Seuchen durchaus erlaubt. Aber doch nicht bei uns!

M wie Musterschüler

Deshalb sind wir jetzt auch so stolz darauf, wie wir mit der Corona-Bedrohung umgegangen sind. Wir sind Europas Musterschüler. Kaum ein Land hat so wenige Bürger an Corona oder mit Corona versterben sehen. „Gottseidank sind wir glimpflich davongekommen!“, klopfen wir uns auf die Schulter. Aber in diesem Satz sind zwei schwere Denkfehler. Der erste betrifft den Irrtum, dass wir davongekommen wären. Sind wir aber nicht. Sollte uns COVID-19 nicht die Höflichkeit erweisen, von selbst einzugehen, am Sonnenschein zu verenden oder zu einer apathogenen Variante zu verkümmern, sind wir nicht davongekommen, sondern mittendrin.Der lange und extreme Lockdown verschiebt die Übersterblichkeit auf die Phase danach. Gestorben wird also erst übermorgen.

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Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune