12. Dez. 2018

Immer diese faulen Hausärzte

Es ist einer dieser föhnigen Novembertage und mein Schädel probt schon in der Früh den Migräneanfall. Ich ertrage kaum den Duft von Kaffee und selbst mein Lieblingsduschgel „Olive et Citron“ aus dem französischen Kloster Ganagobie ist fast zu viel für meine Riechzellen. Mit verschwollenen Augen, aber hyperalerter Nase krieche ich zur Ordi hinein. Dort erwartet mich schon im Vorraum ein unbeschreibliches olfaktorisches Erlebnis. Ich verziehe das Gesicht und betrete die Rezeption: „Sag mal, wo ist der alte, nasse Langhaarköter, der sich im Faulschlamm gewälzt hat?“

Die beste aller Assistentinnen kichert und zeigt in Richtung Wartezimmer. Ach herrje, die Duftnote nasser Streuner ist mir bekannt. Es ist meine erste Vorsorgepatientin heute. Eine reizende Frau. Musikerin. Sie hat ein absolutes Gehör. Aber leider hat der liebe Gott sich offenbar gedacht, dies durch eine absolute Anosmie wieder ausgleichen zu müssen. Überraschenderweise stirbt man doch nicht durch Überladung der Riechnerven. Auch nicht bei der zweiten VU. Diese Dame ist tipptopp gepflegt und hat sich in „Miss Dior“ eingebeizt. Sie transpiriert das Zeug aus allen Poren und atmet es sogar noch aus. Wahrscheinlich riechen auch Harn und Hämoccult danach, ich muss glatt meine Mitarbeiter fragen. Glücklicherweise ist es draußen relativ warm und ich kann mich schnappatmend zum geöffneten Fenster hinaushängen.

S wie Spezialfälle

Mittlerweile hat sich das Wartezimmer gefüllt. Plötzlich höre ich Stimmen, eine davon ruhig und langsam sprechend und meiner Assistentin gehörend. Mit sanften Worten redet sie auf jemanden ein. Ich riskiere einen Blick. Mitten im Wartezimmer steht Frau H. Diese ist offenbar ihrer kompetenten und duldsamen tschechischen Pflegerin entkommen und hat nichts Besseres zu tun, als ihren Freigang für einen Besuch in meiner Ordi zu nutzen. Beim Zuhören, was sie so sagt und vor allem wie, gehe ich davon aus, dass sie wieder einmal ihre Antipsychotika gegen Alkohol getauscht hat. Wie sie an das Zeug kommt mit ihren siebzig Jahren bei versperrten Türen und 24-Stunden-Pflege und Überwachung, ist mir nicht klar, aber sie schafft es immer wieder. Wahrscheinlich gibt es in ihrem riesigen luxuriösen Landhaus geheime Gänge und Keller, von denen weder die Pflegerin noch ihr Sohn wissen.

Als sie mich erblickt, fällt sie mir um den Hals: „Gott sei dank, Frau Doktor, ich brauche eine Infusion, ich habe solche Schmerzen!“ „Nein, Sie kriegen heute keine Infusion, Sie müssen nur Ihre Schmerztabletten nehmen.“ „Nein, nur die Infusion, nur die Infusion kann mich retten!“ In solchen Augenblicken wäre ich gerne Anästhesistin geworden: „Ja, hier kommt das liebe Dormicum und da ist das freundliche Propofol und gute Nacht!“ Mittlerweile erscheint die gehetzte Pflegerin ganz außer Atem und raunt mir ins Ohr, dass der Psychiater gerade zurückgerufen hat. Die stationäre Aufnahme für morgen geht ok. Mittlerweile hat Frau H. neue Wünsche und wir tauschen die Infusion gegen eine schöne knallrote Vitamin-B-Spritze und ein Lungenröntgen. (Fragen Sie erst gar nicht!)

Vor der Rezeption sitzen zwei Unbekannte. Ich grüße freundlich im Vorübergehen und hechte aufs Klo. Beckenbodentraining ist gut, aber irgendwann will der Liter Frühstückstee dann doch hinaus. Am Rückweg sind die beiden nicht mehr da. Ich schiele in die Rezeption und frage: „Waren da nicht gerade zwei?“ „Ja, sie hat seit drei Wochen Bauchweh und keinen Hausarzt. Ich hab gesagt, ich muss fragen, ob du sie noch drannimmst, und sie möge ein bisschen warten. Da sind sie gegangen.“ Irgendwie schnall ich’s nicht. Da kommen die Leute ohne Termin in die Praxis, werden freundlich um etwas Geduld gebeten und dann ist eine Pinkellänge zu viel verlangt. Ich schlurfe zurück in mein Sprechzimmer.

Ein Telefonat muss ich noch entgegennehmen. Eine Dame will ihren OP-Bericht vom vorigen Jahr. „Es ist am einfachsten, wenn der Hausarzt den anfordert“, hat es geheißen. Aber sicher doch! Sonst hat der ja nix zu tun! „Wenn Sie recherchieren, welche Abteilung, welche Faxdurchwahl und mir Ihre schriftliche Vollmacht zukommen lassen, dann ok. Aber“, erkläre ich in freundlichen Worten, „ich geh jetzt nicht stundenlang herumtelefonieren.“ Die nächsten fünf Stunden vergehen ohne Anfälle und ohne Stinker. Alle sind ganz lieb und brav. Sogar meine Migräne hat sich in irgendeine unbedeutende Hirnwindung zurückgezogen und schmollt dort ein wenig vor sich hin. Nach Ende der Ordizeit ist noch Herr W. am Telefon.

„Vor zehn Jahren habe ich eine Gastritis gehabt und jetzt ist es mir seit einer Woche schlecht. Was soll ich tun?“ (Kein Fieber, kein Erbrechen, kein Durchfall, keine Gewichtsabnahme, sonst auch nix.) „Am Telefon kann ich auch keine Ferndiagnose machen.“ „Klar, aber Sie könnten mir ja telefonisch ein paar Tipps geben.“ „Wenn ich telefonisch schon nix diagnostizieren kann, kann ich Sie noch viel weniger telefonisch behandeln. Sie müssen schon herkommen.“ „Nein, das mach ich sicher nicht. Da gehe ich lieber gleich ins Krankenhaus.“ Da hat der Kerl seit einer Woche Beschwerden und weigert sich, beim Hausarzt aufzuscheinen. Der hat ihn gefälligst telefonisch oder telepathisch zu behandeln. Aber ins Krankenhaus kann er sehr wohl gehen. Und das Schlimme ist: Wenn solche Leute wegen jedem Sch… im Krankenhaus erscheinen, sind wir faulen Hausärzte schuld daran!

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune