28. Nov. 2018Digitalisierung

Digitalisierung: In London schrillen die Alarmglocken

Dr. Eva-Maria Kirchberger lehrt in London Innovation. Medical Tribune traf sie im Rahmen des qualityaustria Gesundheitsforums in Wien und fand eine sehr nachdenkliche Forscherin vor – mit besorgniserregenden Berichten aus Großbritannien im Gepäck. (Medical Tribune 48/18)

Kirchberger führt die spannendsten Anwendungen gleich am Laptop vor.

Frau Dr. Kirchberger, ich bin entsetzt: Sie unterrichten Innovation, sind eine Digitalisierungsexpertin und was sehe ich an Ihrem Handgelenk? Nicht irgendein neues Wearable, sondern eine Quartz-Uhr mit Taschenrechner-Tasten im Stil der 1980er Jahre!

Kirchberger (lacht): Ja, die ist doch cool, oder? Ich werde ständig darauf angesprochen. Das ist eine Neuauflage im Retro-Stil. Und der Rechner funktioniert sogar!

Spaß beiseite, die Digitalisierung erfasst immer mehr Bereiche des Lebens, in Zukunft auch die Gesundheitsbranche. Diese scheint in der Entwicklung nachzuhinken. Würden Sie dem zustimmen und wenn ja, warum?

Smartwatch? Fehlanzeige: Kirchberger trägt lieber retro.

Kirchberger: Die Gesundheitsbranche ist in der Tat eine schlafende Branche. Aber das hat keine technischen Gründe, sondern soziale. Das ist immer so: Stark technikgetriebene Industrien wie Medien und Telekom sind Branchen, die Innovationen früh annehmen, Universitäten und die Medizin hinken nach. Ich denke, das liegt daran, dass der Arzt und Professor zum Beispiel traditionelle Institutionen sind, die sich über Jahrhunderte aufgebaut haben und sich auch nicht so schnell verändern. Eine Rolle spielt sicher auch die öffentliche Hand im Hintergrund, die tendenziell nicht unbedingt der Innovationstreiber schlechthin ist. Und der starke Stand des Arztes.

Der um seine Autorität fürchtet?

Kirchberger: Ja, es geht um die Angst vor einem Autoritätsverlust. Aber so ist das nun einmal. Ich selbst merke das im Hochschulbereich, wie meine Autorität zunehmend untergraben wird. Durch die Technik, dadurch, dass es Online-Kurse gibt und die junge Generation die Sharing Economy gewohnt ist und eine „Peer to Peer“-Vorstellung vom Lernen hat. Wir werden zum Beispiel nach jedem Modul gerankt, wie man das bei einem Uber-Auto kennt. Daher haben wir Lektoren an den führenden internationalen Unis mit hohen Studiengebühren fast mehr Angst vor der Beurteilung durch die Studenten als andersrum. Sie können in einem Fach durchfallen und wiederholen, ich nicht. Mein Vorgänger wurde nach einer schwachen Bewertung abgesetzt. So ein Wandel ist für Leute, die als Autoritäten trainiert worden sind, eine riesige Challenge.

Nichtsdestotrotz werden auch Ärzte diese annehmen müssen.

Kirchberger: Absolut! Die junge Generation hat ein anderes Weltbild. Ich unterrichte Studenten um die 20, die wurden aus aller Welt rigoros ausgewählt. Und für die ist es ganz normal zu sagen: „Ok, let’s hack health.“ Die bewundern die Disruptors wie Google, Uber und Amazon. Wir erleben gerade die Verbindung von Computern und Medizin. Die Absolventen entwickeln laufend neue medizinische Gadgets und Apps. Es wird eine Verlagerung vom physischen Raum, von Spitälern oder Arztpraxen, in den digitalen Raum stattfinden. Gesundheit wird weniger mit Gebäuden zu tun haben und immer mehr mit Software. Alles wird patientenorientierter und mobiler.

Das kann ja positiv sein, weil man zu mehr Eigenverantwortung erzogen wird. Dem Arzt freilich steht dann ein Patient fast schon auf Augenhöhe gegenüber, ist jedenfalls kein unwissender Kranker. Wie sehen Sie das?

Kirchberger: Es werden in Zukunft 360-Grad-Profile erstellt, inklusive Genomanalyse, wodurch Krankheiten im Vorhinein erkannt werden. Der Trend geht weg vom Reparieren, hin zur Prävention und Erhaltung der Gesundheit. Die junge Generation ist sich auch sehr bewusst, was sie essen soll und was generell den Lifestyle betrifft. Durch all diese Gadgets ist viel Awareness geschaffen worden. Wenn ich den Lifestyle mit dem Genomprofil matche, dann kann ich sehr viel herauslesen. Der Patient tritt dem Arzt zunehmend als informierter Gesundheitskonsument gegenüber. Der Arzt wird zum Datencoach, das könnte ein neuer Beruf sein. Oder nennen wir es Gesundheitscoach, weil es ja um Prävention geht. Eines ist klar: All die gesammelten Daten sind hochkomplex, da braucht es sicher jemanden, der sie managt und die richtigen Schlüsse zieht. Oder auch Profile Community Manager – jemand, der Menschen mit ähnlichen Krankheitsbildern zusammenbringt und Lobbying für diese Community betreibt. Da wird sich viel entwickeln, auch in der Therapie.

Ich kann mir vorstellen, dass Großbritannien in der Entwicklung etwas voraus ist, oder?

Kirchberger: Ja, wenn ich hierher komme, nach Wien, ist es immer wie eine Reise in die Vergangenheit der letzten Jahre. Aber das ist nicht unbedingt negativ. In England herrscht unheimlicher Kostendruck, weil der National Health Service zusammenbricht. Ich geh dort gar nicht mehr zum Arzt, weil im Endeffekt dürfen die gar nichts mehr verschreiben, weil sie sparen müssen. Die fragen nur, was du zu Hause hast. Es gibt auch irre Wartezeiten in der Ambulanz, schlimme Zustände, die man sich gar nicht vorstellen kann. Und weil die so mit dem Rücken zur Wand stehen, sind sie offen für Neues und denken: „Vielleicht ist die Technik der Ausweg.“ Generell sind die Angelsachsen innovationsbegeisterter, sehen vor allem Chancen und Geschäftspotenziale. Bei uns in Deutschland oder Österreich denkt man eher zuerst an die Risiken. Ich glaube, man muss beides beachten. Die Engländer sind sehr risikofreudig. Die haben diese App „GP at hand“ – da tritt ein Chatbot mit dir in Kontakt, der fragt, was du für Symptome hast, und dann kannst du dir gleich das verschriebene Medikament zuschicken lassen. Das hat in kürzester Zeit über eine Million User gehabt. Und die Leute teilen das gleich über Facebook mit Freunden.

Sie klingen nicht wirklich enthusiastisch. Warum?

Kirchberger: Das Problem ist: Es gibt im Moment keine Standards und Regulierungen, im Prinzip bestimmen die Gerätehersteller alles. Und das ist gefährlich. Der Chatbot gibt dir klare Antworten – man darf halt nicht sagen „Diagnose“, sondern sie nennen es „Analyse“. Die Forschung hat auch gezeigt, dass der Computer noch nicht mithalten kann mit Menschen, also Ärzten, und Fehler macht. Aber die Anbieter, in dem Fall ein Unternehmen namens Babylon, tun so, als ob sie mithalten könnten! Und der NHS ist dafür, weil sie Kosten sparen. Über diesen Telearzt kann man alle zehn Minuten ein neues Appointment buchen, die schaffen am Tag eine Menge Patienten. Es müsste wirklich Richtlinien geben, besonders, wenn mir der Computer sagt, was ich machen oder gar einnehmen soll, und es stimmt vielleicht nicht. Und natürlich auch, was den Datenschutz betrifft. Die Devise lautet: Je mehr Daten, desto besser, damit die Algorithmen Muster erkennen können. Diese Firma Babylon zum Beispiel hat ein Projekt in Uganda, wo sie den Leuten gratis Smartphones geben, damit sie Daten von denen kriegen. Diese Unternehmen haben übrigens immer eine globale Strategie.

Sehen Sie auch die Gefahr einer verstärkten Entwicklung in Richtung Zweiklassenmedizin?

Kirchberger: Ja, es gibt in England schon Versicherungen, die ihre Prämien danach richten, wie viele Schritte man am Tag macht. Generell ist es so, dass die Entwicklungen vor allem Eliten betreffen werden. Man sagt ja, dass es bei der Digitalisierung so sein wird: Auf der einen Seite haben wir die Elite, die bekommt all diese tollen Produkte. Und auf der anderen Seite haben wir Menschen, an denen diese Produkte ausprobiert werden. Das ist die Testgruppe, die Produkte gratis bekommen wird, dafür aber auch den einen oder anderen Datenskandal erleben wird. Weil es sind ja nicht die Edel-User. Auch bei den Unternehmen wird es nur wenige geben, die sich letztendlich weltweit durchsetzen und alles dominieren werden – so wie wir das bei den Tech-Konzernen ja auch sehen.

Und Jobs werden wohl auch en masse wegfallen?

Kirchberger: Studien zufolge könnten heute schon 20 bis 30 Prozent aller beruflichen Tätigkeiten, quer über alle Branchen, von Computern übernommen werden. 30 Prozent Ihrer Tätigkeit – das müssen Sie sich einmal vorstellen, was das bedeutet! Es werden viele Jobs wegfallen und diese werden laut einer Standford-Studie frühestens in 20 Jahren durch neue Jobs ersetzt, die wir uns jetzt noch gar nicht vorstellen können. Sogar der Rezeptionist in Hotels ist laut einer Studie zu 80 Prozent ersetzbar. Wie kann das sein? Nun, es gibt bereits Pilotprojekte in einigen Marriott-Häusern in den USA, wo nur noch Alexa, die Spracherkennung von Amazon, im Zimmer steht und der Gast kann Pizza bestellen oder ein Taxi. Wenn das in Hotels Schule macht, ist es nicht mehr weit, so etwas auch auf Spitäler auszurollen. Für viele Tätigkeiten brauch ich dann keine Krankenschwester mehr, sondern mache alles über den Computer.

Spannend, womit Sie sich so beschäftigen …

Kirchberger: Es wird ein bisschen zur Droge, diese ständige Veränderung. Wenn du nicht mit der Zeit gehst, gehst du mit der Zeit – immer schneller.

Zur Person
Dr. Eva-Maria Kirchberger
forscht am Imperial College London und berät Unternehmen zu Service Innovation und Unternehmertum mit ihrer Firma Wunderlab. Nach einer Zwischenstation in Wien verschlug es die gebürtige Bayerin nach London, wo sie in das prestigeträchtige Marie-Curie-Programm aufgenommen wurde. Heute lehrt sie an der Imperial Dyson Design Engineering School und wird international zu den Top-Experten in puncto Innovation und Kreative Strategie gezählt.

Hintergrund
Quality Austria
veranstaltet jährlich das Gesundheitsforum in Wien mit Fachvorträgen und Experten aus der Praxis. Im Gesundheitsbereich bietet das Unternehmen Systemzertifizierungen, Begutachtungen und Validierungen an. Weiters werden Trainings durchgeführt sowie das Austria Gütezeichen verliehen.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune