21. Nov. 2018

Ich hab die Nase voll

Ich hab die Nase gestrichen voll. Mir reicht’s, es langt, das Maß ist voll! Immer wieder haben Sie mich sagen hören, wie sehr ich meinen Beruf als Allgemeinmedizinerin liebe. Ich weiß nicht, warum und wann das war, aber derzeit kann ich diese Aussagen nicht nachvollziehen. Ganz im Gegenteil, ich finde den Job zum Kotzen. Im Moment. Da ich ihn noch zirka zwanzig Jahre weitermachen muss, relativiert sich dieser Zustand hoffentlich bald wieder. Denn sonst stehe ich vor einem Problem.

B wie Befehlston

Begonnen hat es heute Morgen, als Frau J. mit einem Facharztbefund vom Orthopäden vorstellig wird. Darin steht, dass eine Schmerztherapie mit Neodolpasse vom Hausarzt durchzuführen ist. Kein „höflich erbeten“ oder so. Nur der Befehl. Ich bin also der Befehlsempfänger eines Orthopäden. Auch hat der Kollege noch keine einzige orale Therapie an der Patientin versucht, und da Neodolpasse bekanntlich nur bei Versagen oder Unzumutbarkeit oraler Therapieformen rezeptierbar ist, kann ich da jetzt auch nix tun. Außerdem habe ich derzeit nicht die räumlichen oder personellen Möglichkeiten, zu infundieren und den Patienten dabei zu überwachen. Der Kollege dagegen hat eine riesige Ordination mit mehreren Angestellten, und nichts würde dagegen sprechen, dass er das Ganze selber macht. Außer natürlich die Honorierung.

Eine Infusion schlägt bei der GKK mit zirka sechs Euro brutto zu Buche. Dafür patzt sich ein Facharzt offenbar nicht an. Das hat schon der Hausarzt zu erledigen. (Das sage ich der Patientin natürlich nicht.) Ich unternehme einen frustranen Versuch, die Infusionen bewilligt zu bekommen und erkläre ihr dann, dass sie von mir eine orale Therapie mit Diclofenac und Muskelentspanner haben könnte. Die negative Wirkung des Diclofenac auf den Magen würden wir mit einem Magenschutz abfangen, und das müssten wir sowieso auch, wenn man das Zeug infundiert, denn da kann es genauso Schäden anrichten. Außerdem empfehle ich ihr, noch einmal den Orthopäden aufzusuchen und ihm mitzuteilen, dass ich die räumlichen und personellen Möglichkeiten für längere Infusionstherapien nicht hätte. Und wenn es ihm therapeutisch so wichtig ist, ersuche ich ihn höflichst, die Infusionstherapie selbst durchzuführen. Seine Antwort an die Dame: „Wenn die das nicht macht, dann suchen Sie sich einen anderen Hausarzt, einen Gscheiten.“ Herzallerliebst!

Danach kommt eine Patientin zum Verbandwechsel nach einer Operation (komplizierter Verband, massenhaft Nähte, mühsames Unterfangen). Die Dame ist selbst im medizinischen Bereich tätig und weiß, was das für eine Arbeit ist. Auch die Entfernung der zahllosen kleinen, feinen Nähtchen. Deshalb wollte sie die auch auf der Chirurgie ziehen lassen. Nein, so was macht der Hausarzt. „Ja, aber hier gibt es eh so viele Turnusärzte und Pflegekräfte in Ausbildung?“ Aber nein, das ist doch keine Arbeit für die, denn die Turnusärzte und Azubis sollen mit solchen Arbeiten nicht belästigt werden. Dafür gibt es ja den Hausarzt! „Und dann wundern die sich, dass keiner mehr den Job machen will!“, fügt sie hinzu.

Ich habe mir auch schon anhören müssen, dass ich mir halt eine Krankenschwester oder noch eine Sekretärin anstellen soll, die Verbände, Nähte etc. macht, und die andere, die den ganzen Tag am Telefon, Fax und Internet klebt. Der Gedanke ist ja prinzipiell nicht unvernünftig. Nur mit welchem Geld? Ein Verbandwechsel kann schon mal zwanzig Minuten dauern, wird aber nicht bezahlt.

Schreibkram? Ja, Schreibkram ist das andere Reizwort für heute. Denn auch das macht natürlich der Hausarzt. Und auch das kriegt er/sie nicht bezahlt. Ja, sicher bei einem kleinen Prozentsatz der Patienten gibt es hie und da einen Koordinationszuschlag. Aber der entschädigt auch nicht für die verlorene Lebenszeit, die ich mit irgendwelchen Formularen verbringe – im vorliegenden Fall mit dem gefühlt vierundzwanzigsten Antrag auf Remobilisation. Und die wollen Dinge wissen auf dem Formular, die ich als Hausarzt nicht wissen kann. Nicht ohne zumindest ein halbes Duzend Mal mit der Patientin und deren Betreuern zu telefonieren. Auf meine Rechnung versteht sich.

Und als Ärzte werden wir Allgemeinmediziner sowieso nicht ernst genommen. Die Patienten wissen ohnehin alles besser, denn Dr. Google hat immer recht, und wo der versagt, da muss der Facharzt her. Egal was das Problem ist. Und außerdem ist es völlig wurscht, wie gut man als Allgemeinmedizinerin ist. Wie viel man kann oder weiß, wie viel medizinische oder Lebenserfahrung man besitzt. Man hat ohnehin niemals recht mit seiner Diagnose. Ich kann jungen Kollegen echt nur empfehlen, die Finger von diesem Job zu lassen, falls ihnen selbstständiges Denken oder Handeln ein Bedürfnis ist.

Und uns Älteren kann ich nur empfehlen, das Denken aufzugeben, zu allem „Ja und Amen“ zu sagen und den nächsten Zettel auszufüllen. Und die nächste Anweisung zu befolgen. Und hoffentlich bald abzustumpfen. Ich arbeite daran, aber es gelingt mir so gar nicht.

Jahrzehntelanges Karatetraining hat mich keineswegs zu irgendeiner Art der fernöstlichen Ausgeglichenheit und Abgehobenheit gebracht. Ich hatte gute Trainer und Meister, von denen ich viel gelernt habe, aber oft genug hat irgendein Meister Dinge behauptet, die sportmedizinisch fragwürdig waren oder Sachen von uns verlangt, die einfach blödsinnig waren. „Os Sensei“ mit gebeugtem Haupt („Ja, Meister“) war dann die erwartete Antwort. Das fand ich immer schon zum Kotzen.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune