Herrn Klaus klingeln die Ohren

Der Fall. „Seit Herbstbeginn habe ich das nun und irgendwie wird es immer lauter“, berichtet Ihnen Ihr nächster Patient sein Leid, ein älterer Herr mit wunderschönem weißem Rauschebart und tiefrotem Mantel. „Anfangs war es nur ein leises Klingeln auf einem Ohr, was immer wieder mal kam und dann wieder verschwand. Aber inzwischen ist es ein permanentes Geläute, welches immer lauter wird. Klar ist der momentane Arbeitsstress nicht förderlich, aber ich kann mich ja schlecht krankschreiben lassen, bevor der ganz große Auslieferstress beginnt. Vielleicht können Sie mir ja helfen? Ich wäre ja schon glücklich, wenn es einfach nur leiser wird.“ Er wirkt etwas müde und erschöpft, aber ansonsten agil und fit. Keine Vorerkrankungen oder Allergien, keine Medikation. RR 120/80mmHg, P 60, Temp. 36,7°C, klinischer Status völlig unauffällig. Können Sie Ihrem ungewöhnlichen Patienten helfen? Wenn ja, wie? (ärztemagazin 23/18)  

„ Meist sistieren Tinnitus und stressbedingte Hörstörungen ziemlich abrupt“

Prim. MR Dr. Helmuth Howanietz
FA für Kinder- u. Jugendheilkunde, Kiz Augarten, Wien
TINNITUS LÄSST SICH aus dem Lateinischen tinnire = klingeln ableiten, etwa 25 Prozent der Menschen leiden darunter. Der Begriff Phantomgeräusch, der dieselbe Krankheitsentität beschreibt, lässt schon erahnen, dass dieser Erkrankung nicht nur rein organische, sondern auch ein großes Ausmaß psychoneuraler Komponenten zukommt. Wir unterscheiden vier Stadien in Abhängigkeit vom Ausmaß der subjektiven Beeinträchtigung und dem Klangcharakter. Demgemäß kann es also zu einer geringen Hörstörung bis hin aber zur Arbeitsunfähigkeit und Selbstmord führen.

Die akute Form sollte drei Monate nicht überdauern, da man sonst von ihrer chronischen Form sprechen muss. Diagnostisch können sowohl die Audiometrie als auch bildgebende Verfahren Komorbiditäten wie Innenohrerkrankungen oder Neoplasien Aufschlüsse bringen. Ein für den Tinnitus typisches diagnostisches Medium existiert nicht, die Diagnose muss auch per exclusionem gestellt werden. Therapeutisch haben sich sowohl medikamentöse Zugänge über Vitamin- E-Präparate, Antiepileptika, durchblutungsfördernde Medikamente und Lokalanästhetika nicht wirksam erwiesen, lediglich verhaltenstherapeutische Maßnahmen haben hinsichtlich der Depressionserkrankungshäufigkeit Wirkung gezeigt.

Wenn Tinnitus gegen Ende des Jahres unter Zunahme des Glockengeläutes in den Einkaufsstraßen auftritt, hat das jedoch immer eine gute Prognose und wird ziemlich sicher nach dem Austragen der Weihnachtsgeschenke sistieren. Auch die durch die in unterschiedlichen Höhen stattfindenden Schlittenfahrten und damit verbundenen Druckunterschiede im Mittelohr fallen dann weg, was zusätzliche Heilungsbeschleunigung erwirkt. Für eine Arbeitsunfähigkeit während der Weihnachtsfeiertage würde ich empfehlen, diese schalltraumatisierende „stille Zeit“ abzuwarten und erst nach der „stillen Nacht“ dementsprechend dafür einen Antrag zu stellen, denn zumeist sistieren Tinnitus und stressbedingte Hörstörungen relativ abrupt.

„ Ich denke mir: Nur jetzt keinen kommunikativen Fehler machen!“

Dr. Alfred Wassermair
Arzt für Allgemeinmedizin, Umweltschutzarzt, Tauchmedizin, Hypnotherapie, Aschach a.d. Donau www.wassermair.at
„AUSLIEFERSTRESS?“, frage ich ein wenig erstaunt, denn auf Grund des doch wohl vorgerückten Alters sollte der Herr nach meiner Einschätzung schon seit ein paar Jährchen seine Pension genießen. „Was meinen Sie damit?“ „Na ja, liefern, Bescherung, Weihnachtsgeschenke – Sie wissen schon, rein, raus, Pakete verteilen und weiter mit dem Schlitten. Dann spinnen die Rentiere wieder und wollen nicht mehr weiter, das ist wirklich ein Stress, das kann sich gar keiner vorstellen. Immerhin bin ich alleine für diese Welt zuständig. Und dazu das Klingeln in den Ohren. Das hab ich eigentlich schon lange, aber im Herbst wird es immer schlimmer und zu Weihnachten ist es dann kaum auszuhalten.“ „Aha, ich verstehe, jetzt wird es mir klar, Sie spielen den Weihnachtsmann!“ „Was heißt spielen, ich bin der Weihnachtsmann!“, sagt er ein wenig verärgert. Mein etwas schiefes Lächeln scheint ihn aufzuregen. „Na, glauben Sie mir etwa nicht? Draußen auf Ihrem Parkplatz steht mein Schlitten, können Sie nachschauen!“

Er ist jetzt richtig wütend und ich denke: Nur jetzt keinen kommunikativen Fehler machen. Psychotische Menschen können gefährlich werden und dieser rotgesichtige, leicht erregbare Herr scheint durchaus dazu in der Lage zu sein, den vorweihnachtlichen Frieden durcheinander zu bringen. „Ja, ja“, sage ich beschwichtigend. „Klar, der Weihnachtsmann und draußen steht ein Schlitten mit Geschenken für die lieben kleinen Kinder.“ Er hat offensichtlich meinen süffisanten Unterton wahrgenommen und ich sehe in seinem Gesicht, dass er das absolut nicht goutiert. Er greift sich erst an die Ohren, sein Mund verzieht sich zu einer Grimasse, dann fängt er an, meinen Schreibtisch abzuräumen. Die Stimmgabel, die ich mir bereitgelegt habe, und das Otoskop fliegen in die Ecke, dann macht er sich mit einem grimmigen Schrei über den Blutdruckmesser her … Zwei Stunden später, als ich endlich die Praxis verlasse, denke ich noch einmal etwas traurig an den verrückten alten Mann, den ich gegen seinen Willen in die Psychiatrie eingeliefert habe. Nachdenklich gehe ich zu meinem Auto. Auf dem Parkplatz neben meinem Auto steht ein roter Rentierschlitten und die Rentiere scharren nervös mit den Hufen.

„ Ich nehme mein Otoskop – und dann blickt mir Dean Martin entgegen“

Dr. Bernhard Panhofer
Arzt für Allgemeinmedizin, Ungenach
„GUT, HERR SANTNER – äh – Sie sind doch Klaus Santner – hm?“ „Ja, ich habe eine Lieferfirma in Kirkenes, kompliziert, sag ich Ihnen, weil nicht in der EU, ich liefere noch mit Rentieren aus, sehr zuverlässige Tiere. Der rote Mantel? Den hat mir ein entfernter russischer Verwandter namens Frost geschenkt: ‚Sagen Sie ruhig Väterchen zu mir‘, hat er gesagt, ‚ich hör auf, weil mich die Kommunisten verbieten wollen‘ – das war noch unter der Sowjetunion. Mein Gott, haben wir damals Wodka gesoffen! Einmal habe ich den Vatikan besucht. Bin ich erschrocken, als ich mein Ebenbild sah: ein Mann mit weißem Bart und weißem Haar, schwebend, umgeben von nackten Menschen. Pfui, das würde mir nie einfallen. Warum dieser Michael Andschelo mich porträtiert hat, weiß ich nicht.“

Oje, denke ich, das wird jetzt arg, und unterbreche ihn: „Waren Sie schon einmal auf einer Psychiatrie?“ „In Wien landete ich sogar auf der Geschlossenen, nur weil ich sagte, dass ich vom Himmel hoch herkomme … Am nächsten Tag log ich, was ich konnte: ‚Ich komme aus Oslo, ich bin auf Urlaub in Wien, sehr nette Menschen hier!‘ – Das rettete mich. Aber dieses Klirren im Ohr, Herr Doktor!“ Ich bemühe mich, Fassung zu bewahren. „Auf welcher Seite?“ „Rechts mehr als links.“ Ich nehme mein Otoskop zur Hand. Links: ein wenig Cerumen, sonst bland. Rechts – mir entfährt ein „Ja spinn ich!“ – HÖRE ICH JINGE BELLS! – und dann grinst mir Dean Martin entgegen, leibhaftig, mit Schmalzlocke! „Ist was, Herr Doktor? Sie sagen ja nichts.“ Ich stammle erschüttert irgendwas wie „dashing through the snow“.

Für einen Moment stelle ich mir Gott in Weiß vor, das bringt mich in die Realität zurück und ich reinige beide Gehörgänge. Herr Santner redet weiter, erzählt von seiner Frau („Sie ist wirklich ein Engel“) und sagt dann plötzlich: „Es ist weg, Sie sind ein Heiliger, Herr Doktor!“ Ich betrachte das aus dem Ohr Gespülte und traue meinen Augen nicht: Ein Wurm räkelt sich in der Flüssigkeit, mit einer Schmalzlocke! Ich sage: „Bist du deppert!“ Herr Santner schaut mich verwundert an. „Nein, nein, ich meine den Dean, nein, den … ah Wusel!“ Herr Santner überreicht mir ein Packerl, es fühlt sich wie eine CD an, bedankt sich überschwänglich und verlässt vor sich hin pfeifend die Ordination. Korrekt, wie ich bin, schicke ich den Wurm an die Patho und rufe erschöpft meine Frau an: „Du, wir fahren heute nicht zum Weihnachtsmarkt, ich brauche Ruhe.“ PS. Die CD: Die besten Weihnachtssongs aller Zeiten; Ergebnis Patho: Forficula auricularia nativitatis Domini.