Die Deutschen beneiden uns tatsächlich

Das Datenschutzpaket hat die Elektronische Gesundheitsakte mal wieder in ein schiefes Licht gerückt. Zu Unrecht, wie ELGA-Chef Dr. Franz Leisch erklärt. Im Interview sagt er, warum uns viele Länder um ELGA beneiden, räumt er aber auch ein, dass der E-Befund Optimierungsbedarf hat. (Pharmaceutical Tribune 12/2018) 

Herr Dr. Leisch, wie geht es einem dieser Tage als Chef von ELGA? In Anbetracht der Tatsache, dass von allen Seiten (Datenschützern, Ärztekammer usw.) Kritik auf Sie hereinprasselt.

Ich bin es gewohnt, dass ELGA ein kontroverses Thema ist, gerade auch datenschutzrechtlich, und es gab immer schon Widerstand der Ärztekammer. Was die aktuelle Situation betrifft, sag ich ganz ehrlich: Es hat mich nicht überrascht, dass ELGA manchmal auch kontrovers in den Medien ist.

Zuletzt im Zuge des vom Nationalrat beschlossenen Datenpakets, das die Weitergabe von Daten zu Forschungszwecken erlauben soll. Haben Sie dafür Verständnis?

Ich verstehe, dass das medial Aufsehen erregt, weil es ein emotionales Thema ist. Ich plädiere aber für Sachlichkeit in der Diskussion. Man hat sich in dem Zusammenhang sehr auf ELGA fokussiert. Aber ehrlich gesagt: Das ELGA-System ist für solche Anfragen für Forschungszwecke gar nicht aufgebaut. Man wird sich das im Detail anschauen müssen, aber über ELGA Daten zu bekommen, ist wahrscheinlich der steinigste aller Wege.

Wieso?

„Das ELGA-System ist für Anfragen für Forschungszwecke gar nicht aufgebaut.“
Dr. Franz Leisch

Wir haben ELGA dafür konzipiert, dass am Punkt der Behandlung die Befunde, die in Österreich dezentral geführt werden, für den einzelnen Patienten zusammengesucht werden. In der Software-Branche reden wir vom Use-Case. Und für diesen Use-Case haben wir ELGA implementiert und ausgerollt. Eine Forschungsanfrage hat einen ganz anderen Fokus. Da möchte man von einer gewissen Region oder Krankheitsgruppe repräsentative Daten erhalten. Für diesen Anfragefall ist das ELGA-System nicht konzipiert. Ich denke, dass da ein anderes technisches Konstrukt wohl geeigneter wäre. ELGA ist da aus Forschungssicht meiner Meinung nach nicht der effizienteste Weg.

Trotzdem hat es ja nicht nur atmosphärische Störfeuer gegeben, sondern im Zuge der Datenschutzdebatte doch eine Welle an Abmeldungen. Stimmen die kolportierten 5.000 noch und wie viele sind es insgesamt seit Bestehen von ELGA?

Die 5.000 gab es über einen Zeitraum von etwa zwei Monaten und sie sind tatsächlich ein etwas erhöhter Wert. Aber man muss das schon auch relativieren. Das gilt für die Abmeldungen generell: Seit Bestehen 2014 gab es 273.000 Abmeldungen von insgesamt 8,8 Millionen – rund 97 Prozent sind also bei ELGA dabei.

Zuletzt hat ja nicht nur der Boulevard gegen ELGA Stimmung gemacht, sondern höchste Vertreter der Ärztekammer ein Opt-out empfohlen. Wie sehr schmerzt Sie das?

Ich muss sagen, wir haben mittlerweile auf der operativen Ebene ein sehr gutes Verhältnis zur Ärztekammer. Sie sind auch in vielen Arbeitsgruppen integriert. Da sind wir auf einer sachlichen, vernünftigen Ebene. Dass uns dann immer wieder einzelne Funktionäre kritisieren, das ist halt leider so. Manche haben sich anscheinend darauf eingeschossen, ELGA zu kritisieren. Obwohl, wenn man sich die jüngsten Aussagen genau anschaut, so fokussieren sich die Herren mittlerweile auf den E-Befund und dessen Anwendbarkeit. Das Thema E-Medikation, unsere zweite Teilanwendung, wird durchaus gelobt. Es gibt also keine pauschale Kritik mehr an ELGA – das ist ja schon ein gewisser Fortschritt. Wenn man genau schaut, wurde zuletzt auch keine Abmeldung von ELGA empfohlen, sondern nur von der „Befund-ELGA“.

Dennoch: Der E-Befund ist offensichtlich suboptimal, selbst die Ministerin spricht von einem PDF-Sammelsurium …

Wir arbeiten an Verbesserungen, auch die Ärztekammer ist da eingebunden. Was die PDFs betrifft, so sind das, wenn sie so wollen, Altlasten, weil das System ja kontinuierlich verbessert wird. Knappe 30 Prozent sind noch in diesem Format. Das sind Altlasten, die waren am Anfang erlaubt und die werden wir nicht mehr los, weil man kann diese Befunde ja nicht löschen. Aber in Zukunft werden die Befunde immer strukturierter und die PDFs werden in Relation immer weniger. Die zweite Stoßrichtung der Kritik ist, dass die Befunde zu lang und kompliziert sind. Da muss ich sagen, das liegt ja nicht an ELGA.

Inwiefern?

Sie müssen sich ELGA wie ein Betriebssystem vorstellen. Wir wollen ELGA als das Betriebssystem aller E-Health-Anwendungen in Österreich etablieren. Ein Entlassungsbrief entspricht dann sozusagen einem Word-Dokument. Und es würde doch wohl niemand Bill Gates (der Microsoft-Gründer; Anm.) anlasten, dass jemand einen zu langen Word-Brief schreibt. Wobei wir natürlich von der Strukturierung schon mehr vorgeben als Word. Aber im Endeffekt erstellen schon Ärzte den Inhalt.

Warum sind die Inhalte zu lang – Angst vor Haftungen?

Ich denke unser Thema ist eher die Problematik, dass ein Hausarzt etwas anderes lesen will als ein niedergelassener Facharzt. Jeder Arzt hat unterschiedliche Vorlieben. Der eine will längere Briefe, der andere kürzere. Dem einen ist es zu ungenau, dem anderen zu genau. Wir brauchen einen Kompromiss, der für alle interessant ist. Aber die Entlassungsbriefe müssen insgesamt kürzer sein. Wir haben die Herausforderung der Standardisierung. Aber das müssen sich letztendlich die Ärzte untereinander ausmachen. Wir stellen wie gesagt ja nur das Betriebssystem zur Verfügung.

Und E-Medikation und E-Befund sind dann die Software-Anwendungen?

Genau. ELGA ist das Betriebssystem und E-Medikation, E-Befund sowie wahrscheinlich auch der Elektronische Impfpass sind dann wie Office-Anwendungen. Über diese Funktionen hinaus wollen wir in der ELGA-Struktur auch noch zusätzliche Anwendungen von Drittanbietern erlauben. So, dass die ELGA-Infrastruktur dann auch für verschiedene telemedizinische Lösungen genutzt werden kann. Da gelten dann natürlich auch andere Regeln, es kann auch ein Opt-in geben. Die Widerspruchslösung gilt nur für die ELGA-eigenen Anwendungen.

Was sagen Sie zu der Kritik, dass man mit ELGA zwangsbeglückt wird?

Ich sehe das als wesentlichen Service an. Und da man sich abmelden kann, kann man auch nicht von Zwang sprechen. Als Mediziner kann ich sagen, dass es wesentlich ist, alle relevanten Informationen zur Verfügung zu haben. Das ist ja im Sinn des Patienten.

Tatsächlich stößt man auf Veranstaltungen zur Zukunft der Medizin immer wieder auf deutsche Experten, die uns Österreicher um ELGA beneiden. Zählt der Prophet im eigenen Land mal wieder nichts?

Wir hatten gerade den kassenärztlichen Bundesverband bei uns. Die Deutschen beneiden uns tatsächlich, weil wir für gewisse Grundsatzprobleme Lösungen haben, die sie nicht haben. Wir haben mit dem Patientenindex eine eindeutige Identifikation aller 8,8 Millionen Patienten. Wir wissen, wer wer ist und wo er war. Darum beneiden uns viele Länder! Wir haben das zehn Jahre lang entwickelt. Auch die Amerikaner haben so etwas nicht, hinken uns da zehn Jahre hinterher. Dann haben wir den GDA-Index, wo wir alle Gesundheitsdienstleister drinnen haben, was sie dürfen und was nicht. Und wir haben Regelwerke und Protokollierungssysteme – jeder Zugriff auf ELGA wird protokolliert und ist vom Patienten einsehbar. Das ist ein Novum. Und was die Deutschen überhaupt nicht glauben konnten: Dass wir uns auf einen Standard für Patientenbriefe einigen konnten, und das auch noch gesetzlich verordnet. Die waren perplex, sie können sich auf kein System einigen. Also, wir haben schon sehr viel erreicht. Übrigens hat uns die EU-Kommission als Referenztechnologie für die ganze EU empfohlen. Aber natürlich, gerade beim E-Befund müssen wir noch an der Usability feilen und das besser in den Praxisalltag des Arztes integrieren.

Gibt es auch Länder, die als Role Model dienen?

Ja, zum Beispiel Estland. Das ist ein relativ kleines Land und die haben schon Ähnliches gemacht. Deren Erfahrungen machen übrigens auch Mut, etwa was den Widerstand der Ärztekammer betrifft. In Estland hatten sie das auch. Der Kollege dort hat gesagt: In fünf Jahren gibt sich das, dann fängt das an zu laufen.

In welche Richtung soll die Entwicklung gehen?

Ich sehe ELGA als ein Aggregations- Service, das am Ende des Tages ein Patientencockpit bietet – wo man alle wesentlichen Informationen eines Patienten auf einen Blick sehen kann, auch Verlaufskurven von Blutbefunden etc. Wir starten Pilotprojekte, um Bilddaten zu integrieren. Es wird natürlich noch etwas dauern, bis das alles umgesetzt ist, aber dass ELGA nicht ausbaubar ist, ist einfach falsch. Und es gibt schon jetzt super Implementierungen von ELGA in manchen Einrichtungen. Deshalb bin ich da ganz entspannt und optimistisch. Derzeit ist beim E-Befund erst die Minderheit optimal, deshalb verstehe ich Ärzte, wenn sie noch nicht zufrieden sind. Aber ich sehe viel Potenzial!

Zur Person
DI (FH) Dr. med. Franz Leisch ist seit Jänner 2018 Co-Geschäftsführer der ELGA GmbH, die für die Implementierung der Elektronischen Gesundheitsakte ELGA in Österreich verantwortlich ist. Davor war er IT-Manager bei der VAMED AG. Von 2009 bis 2013 war Leisch im Bundesministerium für Gesundheit tätig, wo er ebenfalls mit ELGA beschäftigt war.

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