25. Sep. 2018Humanitäre Hilfe

Ärzte ohne Grenzen: „Frauen bitten um Windeln“

Ärzte ohne Grenzen prangert EU-Politik und „humanitäre Katastrophe“ in Lagern an. (Medical Tribune 39/18)

Marcus Bachmann von Ärzte ohne Grenzen schlägt Alarm.

„Ich appelliere an Bundeskanzler Kurz: Die Politik, die Sie betreiben, hat immense menschliche Kosten – sorgen Sie endlich für eine humane Politik in Europa!“ Derart eindringlich hat sich Marcus Bachmann, humanitärer Berater bei Ärzte ohne Grenzen Österreich, rund um den EU-Gipfel in Salzburg zu Wort gemeldet. Europäische Politiker würden den Rückgang der Ankünfte aus Libyen als Sieg ihrer restriktiven Flüchtlingspolitik feiern, tatsächlich aber hätten die Maßnahmen einen hohen menschlichen Preis, der nicht ignoriert werden dürfe. „Eine humanitäre Krise unsichtbar zu machen hat noch nie dazu beigetragen, sie zu lösen“, meint Bachmann.

Chemische Verbrennungen

Die Lage am Zentralen Mittelmeer sei gefährlicher als je zuvor: „Seit Rettungsschiffe an ihrer Arbeit gehindert werden und die Seenotrettung de facto der libyschen Küstenwache überlassen wird, sind hunderte Menschen ertrunken“, sagt Bachmann. Und mehr als 13.000 Männer, Frauen und Kinder seien heuer bereits nach Libyen, und damit in ein Konfliktgebiet, zurückgebracht worden. Die dortigen Auffanglager würden zum Teil von Milizen betrieben, wodurch die Menschen Gewalt ausgeliefert seien, mitunter auch gekidnappt würden. Humanitäre Hilfskräfte werden, so ein weiterer Vorwurf, wegen der „Defacto- Blockade durch EU-Staaten“ an ihrem Einsatz gehindert. Und was sie berichten, ist in der Tat erschütternd: Durch ein Gemisch aus Salzwasser und Benzin seien chemische Verbrennungen häufig – vorzugsweise bei Frauen und Kindern, die meist auf den schlechtesten Plätzen in den Schlauchbooten sitzen. Nicht selten werden Ärzte in den Lagern mit Folterspuren konfrontiert, schweren gynäkologischen Verletzungen durch sexuellen Missbrauch und auch ansteckenden Krankheiten wie Tuberkulose.

Die Situation auf den griechischen Inseln ist ebenso dramatisch: Allein auf Lesbos sitzen 10.000 Menschen – die Hälfte davon Kinder – unter unmenschlichen Bedingungen fest. Dabei wurde das Camp Moria nur für 3.000 Menschen konzipiert. Gewalt und Missbrauch sind auch hier an der Tagesordnung. „Frauen bitten um Windeln für Erwachsene, weil sie sich nachts nicht auf die Toilette trauen“, berichtet Bachmann. Drei Menschen leben auf 1,5 m2, anstatt 20 Menschen – was der humanitäre Mindeststandard wäre – müssen sich 73 Personen eine Latrine teilen. „Mitarbeiter sagen, sie haben noch nie so Schreckliches erlebt“, sagt Bachmann: „Und die waren auch schon in Afghanistan und im Südsudan.“ Menschen würden elementarster Grundbedürfnisse beraubt und seien schwer traumatisiert. Bachmann: „Wenn es die EU nicht schafft, einige tausend Schutzsuchende menschenwürdig zu versorgen, wie sollen dann die angekündigten Lager außerhalb Europas funktionieren?“ Es gebe keine einfachen Lösungen, aber die Rhetorik von der Hilfe vor Ort stünde im kompletten Gegensatz zur Realität.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune