Vor lauter Lauschen und Staunen

„Sei still, du mein tieftiefes Leben“. So beginnt ein Gedicht von Rainer Maria Rilke. Sehen wir es doch als Anregung für den Urlaub, der hoffentlich für viele bald kommt und lange bleibende Wirkung hinterlassen möge. „Und wenn dir einmal das Schweigen sprach, laß deine Sinne besiegen“, heißt es bei Rilke weiter. Ja, wenn uns einmal das Schweigen spricht. Wie oft kommen wir wirklich zur Ruhe? Ist unser Urlaub ein Online-Urlaub, mit dem obligaten Scannen des Maileingangs und sonstiger Nachrichten in den sozialen Medien? Oder spricht uns wirklich das Schweigen – analoges Schweigen sozusagen, bis hin zur inneren Ruhe?

Niemand klagt, er sei zu wenig im Büro gewesen

„Jedem Hauche gieb dich, gieb nach, er wird dich lieben und wiegen.“ Dem liebenden und wiegenden Hauch nachgeben – nachgeben, im Sinne von empfänglich sein dafür. Ich habe in meiner Tätigkeit als Palliativmediziner viele Menschen in Zeiten fortgeschrittener Krankheit klagen gehört, dass sie ihr Leben zu wenig gelebt, genützt hätten. Aber ich erinnere mich an keinen Menschen, der mir am Lebensende gesagt hätte, er sei zu wenig im Büro gewesen. Nehmen wir es also ernst, dieses Leben. Ernst im Sinne der Einmaligkeit, der Endlichkeit. Das Leben ist keine Generalprobe, nein, wir sind mitten in der Aufführung. Und auch wenn uns im Arbeitsalltag dieses Bewusstsein immer wieder ein wenig abhandenkommen mag, so kann die Urlaubszeit genau dafür wichtig sein, dass wir uns diese wesentliche Bedeutung der Endlichkeit für unser Leben ins Bewusstsein rufen!

„Wie ein Federkleid über die sinnenden Dinge“

Das Gedicht endet mit „Und dann meine Seele sei weit, sei weit, daß dir das Leben gelinge, breite dich wie ein Federkleid über die sinnenden Dinge.“ Was macht es aus, das gelingende Leben? Jede und jeder kann es nur für sich beantworten – aber dass wir uns die Frage stellen und dass wir immer wieder nach der Antwort suchen, darauf kommt es an. „Dass einem das Leben so gelingen kann!“, schrieb vor kurzem eine liebe Freundin. Gibt es Größeres, Schöneres, Wesentlicheres als genau das erleben zu können? Ich wünsche Ihnen ein gelingendes Leben – und einen schönen Urlaub!

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune