29. Juni 201850 Jahre Medical Tribune

Dr. Pichlbauer: Und jährlich grüßt das Murmeltier

Das österreichische Gesundheitssystem hat viele Schwächen. Unklare Zuständigkeiten und fehlender Reformwille zählen dazu. Und so hat sich seit 50 Jahren im Grunde kaum etwas verbessert, wie Gesundheitsökonom und MT-Kolumnist Dr. Ernest Pichlbauer analysiert. (Medical Tribune 26/18)

Das österreichische Gesundheitswesen zeigt das Bild beachtlicher Verschiedenheit durch unterschiedlichste Träger, wodurch eine überregionale Zusammenarbeit zugunsten von ,Eigeninteressen‘ behindert wird. […] Die Existenz so vieler Träger ist nicht geeignet, die Entwicklung eines rationellen, aufeinander abgestimmten und reibungslos funktionierenden Systems zu fördern. […] Zwischen intramuralem und extramuralem Bereich besteht eine scharfe Trennlinie. Es existieren Zweigleisigkeiten in der Arbeit von Spitälern und Ärzten in der Praxis. […] Es gibt die steigende Tendenz der praktizierenden Ärzte, ihre Patienten in ein Spital einzuweisen – diese Tendenz wird unter anderem durch das Honorierungssystem gefördert. […] Die Vorsorge für die ärztliche Betreuung alter Menschen und chronisch Erkrankter ist im Allgemeinen unzulänglich.“

Und:

„Trotz verschiedenster Bemühungen um eine verstärkte Koordinierung und Angleichung der Interessen mussten wir feststellen, dass das österreichische Gesundheitssystem aufgrund seiner vielschichtigen Verwaltungsstruktur und dualen Finanzierung komplex und fragmentiert ist. […] Besonders die Aufteilung der Finanzierung von intra- und extramuralen Leistungen zwischen den Bundesländern und Sozialversicherungen kann die Betreuungskontinuität beeinträchtigen und zu Kostenverschiebungen führen. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass zurzeit die Gesundheitsergebnisse innerhalb der Bevölkerung schlechter und die Gesamtkosten höher ausfallen, als dies in einem koordinierten System der Fall wäre.“

Zwischen diesen beiden Aussagen liegen fast 50 Jahre. Die erste stammt vom WHO-Regionalbüro für Europa („Besprechung des Spitalswesen in Österreich mit Empfehlung für künftige Entwicklungen“, Oktober 1969), die andere aus der „Effizienzanalyse des österreichischen Sozialversicherungs- und Gesundheitssystems“ der London School of Economics and Political Science aus dem Jahr 2017. Was kritisieren diese beiden Studien? Unser System! Hintergrund ist, dass Überschriften wie Prävention, Krankenbehandlung, Reha, Pflege und Palliativversorgung ihre theoretische Berechtigung haben, aber praktisch nicht leicht voneinander zu unterscheiden sind: Denn, wo hört Krankenbehandlung auf und beginnt Reha? Ist aktivierende Pflege Tertiärprävention oder doch Pflege? Wenn eine Leistung für eine Krankheit primärpräventiv, aber für eine andere sekundärpräventiv ist, ist sie dann eher primärpräventiv oder sekundärpräventiv? All diese Abgrenzungsprobleme kennt ein gutes System nicht.

Wer ist zuständig?

Unser System jedoch muss diese Abgrenzungen aus rechtliche Gründen vornehmen – denn für alles ist jemand anderer zuständig: für Primärprävention der Bund, für Sekundärprävention die Kassen, Tertiärprävention ist nicht normiert, inhaltlich aber Maßnahmen „der Gesundheitsvorsorge“, gemeinhin als Kuren bekannt, nicht unähnlich. Diese sind, im Gegensatz zur Reha, auch OHNE vorangegangene Krankheit möglich: Zuständig sind für Mitversicherte die Kassen, für Werktätige und Pensionisten die PVA. Kuren dienen jedoch nicht der Pflegevermeidung, weil sie sich an Werktätige richten und nicht ambulant oder mobil angeboten werden. Für Krankenbehandlung außerhalb der Spitäler sind Kassen und Krankenfürsorgeanstalten, innerhalb der Spitäler die Länder zuständig. Für Reha NACH erworbener, heilbarer Krankheit, für Werktätige oder Pensionisten mit geminderter Erwerbsfähigkeit die PVA, für Alters-Pensionisten und Mitversicherte die Kassen. Und obwohl Reha rechtlich und inhaltlich keine Kur ist, erhalten Pensionisten offiziell „medizinische Rehabilitation als Gesundheitsvorsorge“ – also sowas wie Kur in der Therapie-Intensität einer Reha.

Krass ist die Zuständigkeit bei Kindern. Ist nämlich eine Reha nach einer Krankheit nötig, aber nicht klar, ob es sich dabei um eine erworbene oder angeborene handelt, ist auch die Zuständigkeit unklar. In einem Fall die Kasse der Eltern, im anderen vermutlich die Sozialabteilung des Landes – absurd. Und Pflege- bzw. Betreuungsleistungen? Da weiß niemand, wer zuständig ist: in Akut-Krankenanstalten wohl Länder, in Reha-Zentren Sozialversicherungen, in Pflegeheimen wieder Länder, dann aber im Rahmen des Sozialsystems (womit die Ausbildungsfrage ungeklärt bleibt); und für mobile Dienste ist niemand wirklich zuständig. Das erkennt man am Unwort „Volkspflegestätten“. Ein Begriff aus den 1920ern – damals hat man dem Adel Schlösser weggenommen, um Pflegeheime für Kriegsversehrte einzuquartieren. Bis heute steht der Begriff in der Verfassung und ist der Grund, warum Länder bei „Pflege“ an Immobilien, nicht an Inhalte denken. Bleiben wir in den 1920ern. Damals, als Reha und Palliativversorgung praktisch noch bedeutungslos und Pflege klar Privatsache war, wurde in einem Bericht (Dawson Report) des britischen Gesundheitsministeriums festgehalten, dass Prävention und Kuration nach vernünftigen Grundsätzen nicht voneinander zu trennen sind und im Wirkungsbereich des Hausarztes zusammengeführt werden müssen.

Der Hausarzt soll sich außerdem nicht nur um die Gesundheit des Einzelnen kümmern, sondern auch um die Volksgesundheit – der Public-Health-Ansatz war geboren. Um die Aufgaben effektiv zu erfüllen, braucht er die Mitarbeit von Apothekern, Pflegekräften und Hebammen. Unter der Führung des Hausarztes, der in entsprechend ausgestatteten, und idealerweise seitens des Gesundheitssystems bereitgestellten, Räumlichkeiten (Primary Care Center) ordiniert, sollen diese zusammenarbeiten. Die Leistungen sind so wohnortnah wie möglich zu erbringen. Hausarztordinationen sollen je nach regionalem Bedarf dimensioniert sein, wobei zwischen ruralen und urbanen Regionen zu unterscheiden ist. Erst wenn diese erste Ebene nicht mehr ausreicht, soll der Patient in die Sekundärversorgung überwiesen werden – das war die Geburt der Idee der abgestuften Versorgung.

Ideen wurden ventiliert

1978 wurde die Idee der Primary Health Care durch die WHO aufgenommen und in Alma Ata deklariert: „Um eine gute, gerechte, für alle zugängliche und nachhaltig leistbare Versorgung zu erreichen, müssten die wesentlichen Gesundheitsprobleme der Bevölkerung vor Ort adressiert werden. Alle Regierungen sollen nationale Strategien und Umsetzungspläne entwickeln, um PHC als Teil einer umfassenden Gesundheitsversorgung zu etablieren und zu stärken.“ Auch bei uns wurden Ideen ventiliert und manche sogar pilotiert. Übrig blieb nur das Sozialmedizinische Zentrum in Graz Liebenau, das seit 1984 die Idee von PHC umsetzt – ansonsten ruhte der Gedanke und ruht im Grunde weiter; denn das, was aktuell diskutiert wird, ist kaum das, was PHC ist – so wie 1920 klar war, dass Prävention und Kuration in der Erstversorgungsebene nicht auseinanderdividiert werden können, kommen seither, dank des medizinischen Fortschritts und höherer Lebenserwartung, noch Rehabilitation, Pflege und Palliativversorgung dazu, die auch nicht vernünftig voneinander zu trennen sind! Weil es aber keinerlei Änderungen des Systems gibt, bleiben die Abgrenzungsprobleme und wir werden keine PHC kriegen. Wie hinderlich dieses System ist, kann in vielen Bereichen beobachtet werden. Etwa der aktuell heftig diskutierten Leistungsharmonisierung. 1996 wurde in einer 15a-Vereinbarung festgehalten, für alle ambulanten Einrichtungen (Kassenärzte, Ambulatorien und Spitalsambulanzen) einen einheitlichen Leistungskatalog einzuführen – und zwar ab 2001 (!). Mit etwas Glück wird es in den Spitalsambulanzen ab 2025 einen einheitlichen Katalog geben. Ob der irgendwann auch für Kassenärzte gilt, steht in den Sternen.

Unerträgliche Folgen

Neben solchen eher abstrakt klingenden Problemen, die zwar dafür sorgen, dass die Gesundheitsergebnisse schlechter und die Gesamtkosten höher ausfallen, gibt es ganz plastische und unerträgliche Folgen dieses „Systems“. 1999, vor fast 20 Jahren, hat das ÖBIG, die heutige GÖG, in der „Rehabilitation von Kindern in Österreich“ ein grobes Versorgungsdefizit moniert. Weil aber Zuständigkeiten unklar waren und politischer Wille zu einer Systemform fehlte, wurde das Thema zur endlosen Geschichte. So konnte das ÖBIG 2004, 2008 und 2010 die gleichen Defizite immer und immer wieder beschreiben. 2014 kam es zu einer Einigung zwischen Sozialversicherungen und Ländern, wie man sich die Kosten teilen will. Nach weiteren vier Jahren konnte man sich auf die Standorte einigen – doch jetzt dürfte es sie bald geben, die stationäre Reha für Kinder. Zwischenzeitlich haben Tausende Kinder keine Reha gekriegt – dank unseres Systems wurden also Tausende Kinder mit vermeidbarer Behinderung ins Leben geschickt.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune