Ungesunde Entwicklungen im Land der begrenzten Möglichkeiten

Wenn es um Krankenversicherungen, Medikamente und Rezepte geht, entwickelt sich Amerika zum Land der begrenzten Möglichkeiten. Eine Analyse. (Medical Tribune 18/18)

Amazon wirft auch auf den Gesundheitsmarkt seinen Schatten: Die Angst vor Online-Konkurrenz treibt Apothekenketten in Milliarden-Deals.

Manchmal muss man gar nicht viel tun, um viel zu bewirken. So beginnt der Online-Riese Amazon bereits, das amerikanische Gesundheitssystem zu verändern, ohne in dem Bereich überhaupt Substanzielles gemacht zu haben. Allein die Aussicht darauf, dass Amazon auch in dieses Geschäft einsteigen könnte, reichte aus, um wesentliche Ereignisse in Gang zu setzen und eine Kettenreaktion auszulösen. Die beiden größten amerikanischen Apotheken- bzw. Pharmahandelskonzerne schließen sich mit zwei der größten Krankenversicherer zusammen. Der Versicherungsriese Cigna will Express Scripts Holding schlucken, dessen Konkurrent CVS Health wiederum den Krankenversicherer Aetna übernehmen. Beide Deals haben – inklusive Schuldenübernahme – ein Volumen von fast 70 Milliarden US-Dollar.

Vertikale Übernahmen

Die Behörden müssen noch zustimmen. Sie haben übrigens ihren Teil zu den Deals beigetragen: Die Kartellwächter hatten 2017 nämlich zwei geplante Mega-Merger innerhalb der Krankenversicherungsbranche blockiert: den Zusammenschluss von Anthem und Cigna sowie jenen von Aetna mit Humana. Diese Mega-Versicherer hätten jetzt noch alle Hände voll zu tun, um diese Deals zu verdauen, und sie selbst wären wohl zu groß, um ihrerseits „Opfer“ einer Übernahme zu werden. So aber hat man in der Branche Ausschau nach Möglichkeiten vertikaler Übernahmen gehalten. Davon spricht man, wenn Unternehmen ihre Kräfte bündeln, die zwar im selben Markt agieren, dort aber an verschiedenen Positionen der Zuliefererkette stehen.

An dieser Stelle muss man eine Eigenheit des amerikanischen Gesundheitssystems erklären: Die Pharmakonzerne liefern ihre Medikamente an Großhändler wie McKesson, AmerisourceBergen oder Cardinal Health, die diese wiederum an die Apotheken ausliefern, wo sie dann an den Endkunden abgegeben werden. In der Regel schickt übrigens der Arzt das Rezept per E-Mail an die Apotheke. So weit, so gut. Hinzu kommen aber noch Akteure, die mit der physischen Distribution nichts zu tun haben, aber die Finanzströme bzw. Preise regeln. Denn der Preis rezeptpflichtiger Arzneimittel wird in den USA rein marktwirtschaftlich bestimmt, der Staat hält sich raus. Zu einem erheblichen Teil sind dabei sogenannte Pharmacy Benefit Manager (PBM) beteiligt: Diese stellen im Auftrag von Krankenversicherern die Medikamentenliste zusammen und verhandeln über Preise und Rabatte mit den Pharmafirmen und Apotheken. Die Verhandler bestimmen, welche Arzneimittel von welchen Herstellern von den Krankenversicherungen erstattet werden und welche Zuzahlungen Patienten leisten müssen.

Ihre Arbeit ist allerdings höchst intransparent und deshalb umstritten. Die Krankenkassen etwa wissen nicht immer, zu welchem Preis der PBM die Medikamente bei den Pharmafirmen eingekauft hat. Das US-Gesundheitssystem leidet, nebenbei gesagt, unter steigenden Versicherungskosten und gilt als eines der teuersten und ineffizientesten weltweit. Überzogene Preise bei Medikamenten erzürnen oft die Gemüter. Die Mittelsmannfunktion der PBM wird im Wesentlichen von den drei großen Playern übernommen: Express- Scripts, CVS Health und OptumRx. Sie verarbeiten mehr als 70 Prozent aller verschreibungspflichtigen Medikamente. OptumRx gehört bereits zum Krankenversicherer UnitedHealth, der sein Geschäft schon 2015 diesbezüglich erweitert hat und damit höchst erfolgreich ist. Auch das ist sicherlich ein Treiber der aktuellen Fusionen.

Wenn Alexa Pillen kauft

Und eben der lange Schatten von Amazon. Zwar ist es selbst für so einen Riesen nicht einfach, im komplizierten, intransparenten und teils regulierten Gesundheitsmarkt zu reüssieren, aber wenn es jemandem zugetraut wird, dann Amazon. Der Konzern hat schon öfters bewiesen, dass er in neuen Geschäftsbereichen erfolgreich sein kann. Und die Vorstellung vom Patienten, der fragt: „Alexa, was für Pillen muss ich heute nehmen?“ und für den eben diese Alexa auch gleich die Arzneien nachbestellt, die dann per Drohne oder UPS in kürzester Zeit zugestellt werden, ist für etablierte Retailer bedrohlich. Der Markt ist jedenfalls interessant. Kein anderes Industrieland gibt so viel Geld für sein Gesundheitssystem aus wie die USA. Die jährlichen Ausgaben belaufen sich auf fast 18 Prozent des BIP bzw. mehr als 10.300 Dollar pro Kopf. Der Verkauf von Medikamenten ist ein lukratives Geschäft und ein Wachstumsmarkt. Jährlich gehen in den USA derzeit Medikamente im Wert von 450 Milliarden Dollar über den Ladentisch der Apotheken. Vor zehn Jahren waren es noch 270 Milliarden.

Wer wird wirklich profitieren?

Amazon hat in mehreren US-Bundesstaaten bereits Handelslizenzen für Arzneien erhalten, darf etwa Medizintechnik und Medikamente als Großhändler verschicken, woraufhin die Aktienkurse der großen Krankenhaus- Zulieferer einbrachen. Der Kauf des Versicherers Aetna durch CVS ist offensichtlich eine Flucht nach vorn. Man will nicht tatenlos zusehen, wie einem der neue Konkurrent womöglich das Wasser abgräbt. So aber stellen sich Beobachter die Frage, was die neue Konzentration am Gesundheitsmarkt bedeutet. Die Konzerne betonen, dass sich Konsumenten wie auch der Staat auf geringere Kosten freuen dürfen. Doch die Realität könnte anders aussehen. Nach den eingangs erwähnten Milliarden-Deals werden mehr als 90 Millionen Menschen bei einem von drei Konzernen versichert sein, die wiederum Milliarden Rezeptansprüche bearbeiten und mehr als 500 Milliarden Dollar Umsatz erwirtschaften. Die Pharmaindustrie wird sich nicht freuen, mit derart gestärkten Geschäftspartnern verhandeln zu müssen. Ob etwaige Kostenvorteile aber tatsächlich an Kunden weitergegeben werden, darf angezweifelt werden. Denn weniger Wettbewerb bedeutet für die bestehenden Konzerne auch gegenüber dem Endabnehmer eine höhere Marktmacht bei der Preisgestaltung. Und schließlich müssen ja auch noch die Aktionäre der börsennotierten Gesellschaften zufriedengestellt werden …

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune