8. Juni 2017

Flüchtlingen helfen ohne Grenzen

Flüchtlingen überleben zu helfen und Leid zu lindern, steht für „Ärzte ohne Grenzen“ außer Frage. (Medical Tribune 22/2017)

Foto: Wikimedia / Public Domain - John Edwards

„Jedes Leben zählt“, richtet Dr. Martha Hoyos noch ein letztes Mal den Blick auf das Auditorium, das ganz still geworden ist. Ihre Augen lassen Grenzsituationen erahnen, von denen die „Ärztin ohne Grenzen“, die in München lebt, auf der Linzer Reisemedizinischen Tagung nüchtern aber mit eindringlicher Stimme berichtet. Die Zahlen sind gewaltig: 2015 waren weltweit 65,3 Millionen Menschen gezwungen ihr Land zu verlassen – so viele, wie Frankreich Einwohner hat.

Jeder Vierte unter 18

Mehr als eine Million Menschen aus dem Mittleren Osten und Nordafrika flohen 2015 über das Meer nach Europa, davon die Hälfte aus Syrien, ein Fünftel aus Afghanistan und ein Zehntel aus dem Irak. 17 Prozent dieser Flüchtlinge waren Frauen, 25 Prozent Kinder unter 18 Jahren. Der Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs im März 2011 habe „zweifellos“ die größte humanitäre Krise seit dem 2. Weltkrieg ausgelöst. „Tausende Menschen sind während des Versuchs sicheren Boden zu erreichen ertrunken“, erinnert Hoyos und nennt dazu ungerundete Daten: 2016 kamen 387.739 Flüchtlinge und Migranten nach Europa (Land und Meer), es gab 5098 Tote/Vermisste im Mittelmeerraum.

Dr. Martha Hoyos: „Überleben zu sichern ist oberstes Ziel.“
Dr. Martha Hoyos: „Überleben zu sichern ist oberstes Ziel.“

Flüchtlinge, die es über den Seeweg oder auf dem Landweg doch nach Europa schaffen, seien wieder mit Restriktionen konfrontiert, legt die Ärztin den Finger in die flüchtlingspolitische Wunde, bekräftigt durch Bilder von nicht beheizten Zelten auf matschigem Grund und nach Essen ringenden Händen hinter Zäunen. „Es gibt einen dringenden Bedarf an sicheren Routen.“ Die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) leistet bereits seit Herbst 2002 jenen Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa kommen, humanitären Beistand, anfangs mit einem MSF-Team im italienischen Lampedusa, das die Neuankömmlinge medizinisch versorgt hat. 2015 waren drei große Rettungsschiffe (Dignity I, Bourbon Argos und MY Phoenix) in Kooperation mit der Organisation MOAS im Einsatz und halfen rund 30.000 in Seenot geratenen Flüchtlingen und Migranten.

2016 leisteten MSF-Teams mehr als 300.000 medizinische Konsultationen für Flüchtlinge und Migranten und retteten Flüchtlingsboote im Mittelmeerraum, in Italien, Griechenland, in den Balkanstaaten und in Westeuropa. Heuer gab es laut Hoyos bis 5. April 2017 bereits 30.665 Menschen, die nach Europa flüchteten, davon 29.811 über das Meer, und 663 Tote/Vermisste im Mittelmeerraum. Alleine in der ersten Aprilwoche (30. März bis 5. April) kamen 2451 Flüchtlinge in Italien und 302 in Griechenland an.

Doctor, what would you do?

Auf die Kritik u.a. von der EU-Grenzschutzagentur Frontex, wonach die Rettungseinsätze von Hilfsorganisationen im Mittelmeer indirekt Schlepper unterstützen würden, ging Hoyos nicht ein. Sie zeigte stattdessen Bilder, darunter eines mit tausenden leeren Schwimmwesten auf einer griechischen Insel, und schilderte, was sie bei ihren Einsätzen schon „hundertmal“gehört habe: „Doctor, what would you do? Staying there and dying by bombs or dying by crossing the ocean?“ Das höchste Ziel des humanitären Beistands sei es, das Überleben von Menschen in akuter Not zu sichern und ihr Leiden zu lindern. Dies bekräftigte auch MSF Österreich vor zwei Wochen: „Ja, Ärzte ohne Grenzen rettet Menschen aus Seenot und wir werden es weiter tun, weil das der humanitäre Imperativ fordert“, betonte Mario Thaler, Geschäftsführer von MSF Österreich, bei der Vorstellung des Jahresberichts. Allein heuer habe MSF rund 8000 Menschen aus Seenot im Mittelmeer gerettet.

22. Linzer Reisemedizinische Tagung; April 2017

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune