31. Mai 2017

Der Elchtest für Primärversorger

Ist der Praktische Arzt als Einzelkämpfer ein Auslaufmodell? Die Primärversorgung setzt auf Zusammenarbeit. Ein schwedisches Projekt zeigt, wie damit auch der Hausärztemangel kompensiert werden kann. (Medical Tribune 21/2017)

Andy Maun hielt eine Keynote auf „Zukunftskonferenz 2.0“ in Graz.
Andy Maun hielt eine Keynote auf „Zukunftskonferenz 2.0“ in Graz.

An Primärversorgungszentren führt auch in Österreich kein Weg mehr vorbei. Noch spießt es sich allerdings an den Rahmenbedingungen und Details. Da kann es nicht schaden, über den Tellerrand zu blicken: Wie funktioniert diese Versorgung in Ländern, in denen Primärversorger im Vergleich zu anderen Berufsgruppen im Gesundheitssystem einen hohen Stellenwert haben? Das trifft insbesondere auf die skandinavischen Länder zu, aber auch auf die Niederlande, Kanada, Großbritannien und Neuseeland. Charakteristisch für diese Länder ist ein hohes Ausmaß an interprofessioneller Zusammenarbeit.

Der deutsche Allgemeinmediziner Dr. Andy Maun arbeitete von 2003 bis 2015 in Schweden und war in dieser Zeit auch Mitglied des Qualitätsrates für Allgemeinmedizin. „Interprofessionelle Zusammenarbeit ist vor allem für die wirksame Versorgung von Personen mit komplexen oder chronischen Erkrankungen essenziell“, unterstreicht der am Universitätsklinikum Freiburg lehrende Versorgungsforscher, der auch an der Zukunftskonferenz 2017 der Med Uni Graz zum Thema „Interprofessionalität in der Primärversorgung“ teilnahm. „Und die Primärversorgung ist der ideale Ort für die Versorgung dieser Menschen.“

Die Primärversorgung also als Gegenentwurf zum Konzept, chronisch Kranke von vielen verschiedenen Fachspezialisten an verschiedenen Orten behandeln zu lassen. Der Primärversorger hat in diesem System eine Registrierungsfunktion (alle Bürger sind bei einem Primärversorger eingeschrieben), aber auch eine Gatekeeper-Funktion: Er filtert, welche Patienten in Spitäler oder zum Organspezialisten kommen.

Vergütung pro gelistetem Einwohner

Schweden hat ein steuerfinanziertes und staatlich regional gesteuertes Gesundheitssystem. Die Ausgaben betrugen 2014 11,2 % des Bruttosozialprodukts und liegen damit in einer ähnlichen Größenordnung wie in Österreich. 81 % der Kosten werden von den öffentlichen Kassen getragen, 17 % durch Nutzergebühren (Besuche, Medikamente) gedeckt. Private Versicherungen spielen in Schweden so gut wie keine Rolle. Die hausärztliche Versorgung macht etwa 20 % der schwedischen Gesundheitskosten aus.

Interessant ist das Vergütungsmodell: Allgemeinmediziner werden zu 90 % über die Kapitation vergütet: „Jeder Schwede listet sich in einer Praxis und diese erhält jährlich pro gelistetem Einwohner eine gewisse Summe“, erläutert Maun. „Vielerorts gibt es keine Vergütung pro Besuch! Allerdings wird die Kapitation noch nach Alter, Geschlecht und Diagnosen-Mix der Patienten, sowie nach sozioökonomischen und geographischen Faktoren gewichtet. Dadurch wird etwa sichergestellt, dass Praxen in entlegenen Gebieten auch etwas mehr Geld erhalten.“ Rund 10 % der Vergütung sind an die Erreichung von Strukturzielen gebunden. Dazu zählen unter anderem die Patientenzufriedenheit und medizinische Qualitätsziele.

Breiteres Spektrum der Allgemeinmedizin

In Schweden muss jeder Mediziner zunächst zwei Jahre als Rotationsarzt auf verschiedenen Abteilungen arbeiten, bevor man mit der fünfjährigen Facharztausbildung beginnen kann. Ein großer Vorteil dieses Systems aus Sicht des deutschen Allgemeinmediziners: „Dadurch hat auch jeder Organspezialist mindestens sechs Monate in einer hausärztlichen Praxis gearbeitet.“ Ein weiterer Pluspunkt des schwedischen Systems: Angehende Allgemeinmediziner durchlaufen während ihrer fünfjährigen Ausbildung alle großen Fächer. Arbeitgeber bleibt in dieser Zeit aber die Praxis.

Für das Krankenhaus sind die auszubildenden Ärzte daher gerne gesehene kostenlose Arbeitskräfte. Der Auftrag der Allgemeinmedizin ist in Schweden etwas breiter als in Österreich: Auch einfachere Fragestellungen aus der Pädiatrie, Gynäkologie, HNO oder Augenheilkunde werden noch von Allgemeinmedizinern behandelt. Auf einen Allgemeinmediziner kommen etwa 2000 Einwohner. Das klingt zunächst viel. Allerdings suchen die Schweden im Schnitt nur dreimal jährlich einen Arzt auf, eine Zahl, die deutlich unter dem OECD-Durchschnitt liegt. Rund die Hälfte dieser Besuche findet beim Hausarzt statt.

District Nurses übernehmen vielfältige Aufgaben

In einer durchschnittlichen Praxis mit etwa 10.000 gelisteten Einwohnern arbeiten neben mehreren Fachärzten und Weiterbildungsassistenten auch noch „District Nurses“, die z.B. für die Kontrolle von Asthma, Diabetes, Wundversorgung oder Blutdruck zuständig sind, sowie Kinderkrankenpflegerinnen und gegebenenfalls auch Physiotherapeuten, Psychologen, Hebammen, Logopäden und Ergotherapeuten. Der große Unterschied zu Deutschland oder Österreich ist, dass alle diese Gesundheitsberufe eine universitäre Ausbildung haben und durch die Approbation ein alleiniges Behandlungsrecht erworben wird. „Krankenschwestern oder Physiotherapeuten müssen also nicht durch Delegation in den Behandlungsprozess eingebunden werden, sondern haben die Möglichkeit, auch selbstständig Patienten zu treffen“, so Maun.

Modellprojekt Biskopsgården

Auch in Schweden gibt es einen Hausarztmangel. Besonders schwer sind Allgemeinmediziner für eine Praxis zu rekrutieren, wenn diese in einem sozialen Brennpunktgebiet liegt. In der Gemeinschafts­praxis Biskopsgården (ein Stadtteil von Göte­borg) gelang es, das durch Ärzte­mangel bedingte Problem des ständig ausgelasteten ärztlichen Terminkalenders durch ein neuartiges Patientensortiersystem zu lösen: In Anlehnung an das Manchester Triage-System in der Notfallversorgung wurden alle mit der Praxis in Kontakt tretenden Patienten zunächst von einer approbierten Krankenschwester triagiert. Grundlage der Triage war ein gemeinsam erarbeitetes Manual.

Während zuvor alle Patienten entweder in die reguläre ärztliche Sprechstunde oder in die „District Nurse“-Sprechstunde kamen, wurde durch die Triage ein Teil der Patienten gleich zu anderen Berufsgruppen umgeleitet. Die Patienten schätzten an der neu geschaffenen Drop-in-Sprechstunde der Psychologen, Physiotherapeuten und Ergotherapeuten vor allem, dass sie schneller behandelt wurden. Zusätzlich war es durch die Entlastung des Terminkalenders der Ärzte möglich, auch eine neue sortierte Drop-in-Sprechstunde einzurichten, in der kleinere Erkrankungen und Probleme ohne längere Wartezeiten behandelt wurden. Die bessere Nutzung der Personalressourcen und Kompetenzen im Team führte dazu, dass die Zahl der Besuche in der Praxis im Schnitt um 13 % erhöht werden konnte und über 90 % der Patienten mit der Zugänglichkeit und der Behandlung zufrieden waren.

Auch die Mitarbeiter bewerteten die Veränderungen überwiegend positiv. „Das Modell wurde mittlerweile von anderen Praxen nachgeahmt und für einen nationalen Qualitätspreis nominiert“, berichtet Maun. Ängste und Bedenken von Ärzten, dass ihnen durch eine solche Triage etwas weggenommen werde, hält der Experte für unbegründet: „Aus ärztlicher Perspektive sollte man froh sein, wenn einem Arbeit abgenommen wird. Es gibt genug komplizierte Fälle, um die man sich dann besser kümmern kann.“

Maun A.: „Interprofessionelle Zusammenarbeit in der Primärversorgung – Quo vadis“, Zukunftskonferenz 2.0, Graz, April 2017

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune