Vom Nürnberger Ärzteprozess zur Deklaration von Helsinki

Medizinische Versuche, die an KZ-Häftlingen durchgeführt wurden, sind ein besonders grauenhafter Teil der Geschichte des Holocaust. Im Zuge der Aufarbeitung entstand der „Nürnberg-Code“, der das Fundament heutiger bioethischer Konventionen darstellt. (Medical Tribune 18/2017)

Hitlers Leibarzt Karl Brandt (Foto) wurde zum Tod verurteilt und am 2. Juni 1948 hingerichtet.
Hitlers Leibarzt Karl Brandt (Foto) wurde zum Tod verurteilt und am 2. Juni 1948 hingerichtet.

Mit dem Nürnberg-Code (siehe Kasten) folgten die Richter des Nürnberger Ärzteprozesses nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs den Vorschlägen ihrer Berater und formulierten damit das Fundament heutiger bioethischer Konventionen.
Die internationale Konferenz „Medical Ethics in the 70 Years after the Nuremberg Code, 1947 to the Present“, beschäftigte sich vor Kurzem mit diesem Thema und seinen Implikationen bis in die Gegenwart. Sie fand auf Initiative von Univ.-Prof. Dr. Christiane Druml, MedUni Wien, statt.

Druml ist nicht nur Vorsitzende der Bioethikkommission, sondern auch Inhaberin des UNESCO-Lehrstuhls für Bioethik. Veranstaltet wurde die Konferenz von der MedUni Wien in Zusammenarbeit mit dem Bundeskanzleramt, dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), der Ärztekammer für Wien und weiteren Institutionen. Druml zeichnete zusammen mit Mag. Dr. Herwig Czech, DÖW (jetzt MedUni Wien), und Prof. Dr. Paul Weindling, Oxford Brookes University, für die wissenschaftliche Organisation verantwortlich.

Medizin ohne Menschlichkeit

Die Gräuel, die beim Nürnberger Ärzteprozess zutage traten, hat der deutsche Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich zusammen mit Fred Mielke im Buch „Medizin ohne Menschlichkeit“ dokumentiert. Insgesamt 23 Angeklagte, davon 20 Ärzte, standen von Dezember 1946 bis August 1947 vor Gericht. Unter ihnen war Hitlers Leibarzt Karl Brandt. Andere hatten sich dem Prozess durch Flucht entzogen, wie Josef Mengele oder Aribert Heim. Verhandelt wurden Verbrechen wie Unterdruckexperimente, lang dauernde Unterkühlung, erzwungenes Trinken von Salzwasser, Infektion mit Hepatitisviren oder Fleckfieber, Knochentransplantations- und Phlegmonenversuche sowie die Exposition gegenüber Giftgasen.

Dies ist keineswegs eine vollständige Liste der furchtbaren Torturen, denen Juden, Sinti, Roma, Polen, sowjetische Kriegsgefangene, katholische Priester und andere Opfer unterzogen wurden. So führte Josef Mengele, der höchstwahrscheinlich noch bis in die 1980er-Jahre mehr oder weniger unbehelligt in Südamerika lebte, Zwillingsversuche durch, in denen er u.a. Zwillinge aneinandernähte, um so künstliche „siamesische Zwillinge“ zu schaffen. Im Nürnberger Ärzteprozess wurden auch Massensterilisationen thematisiert, die – zumeist chirurgisch, in manchen Fällen auch durch intensive Bestrahlungen, die schwere Verbrennungen zurückließen – hunderttausende Menschen betrafen. Schließlich wurde das Euthana­sie-Programm „Aktion T4“ behandelt, dem zwischen 1940 und 1945 schätzungsweise 200.000 bis 300.000 Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen zum Opfer fielen.*

Keine umfassende Aufarbeitung

Eine umfassende Aufarbeitung aller heute bekannten Euthanasie-Bereiche konnte der Nürnberger Ärzteprozess damals allerdings nicht leisten. Aufgrund des Hauptangeklagten Karl Brandt stand daher die „Aktion T4” im Zentrum. Im Zuge dessen wurde die Ermordung von Patienten polnischer psychiatrischer Anstalten und KZ-Häftlingen zumindest erwähnt. Brandts Verantwortung für Heil- und Pflegeanstalten auch nach 1941 (nach dem Stopp der T4) und damit seine Mitverantwortung an dem, was heute als „dezentrale Euthanasie“ bezeichnet wird, wurde nur gestreift.

Brandt und sechs weitere Angeklagte wurden zum Tod verurteilt und am 2. Juni 1948 hingerichtet. Sieben weitere Angeklagte wurden freigesprochen. Die neun restlichen Angeklagten wurden zunächst zu Haftstrafen zwischen zehn Jahren und lebenslänglich verurteilt. Sie wurden jedoch alle bis spätestens 1955 freigelassen, die meisten bereits 1951. Dies hatte nichts mit einer Neubewertung ihrer Schuld zu tun, sondern mit einer Änderung der politischen Rahmenbedingungen. „Schon vor dem Nürnberger Ärzteprozess gab es, im Frühjahr 1946, den sogenannten Mauthausen-Prozess, der von einem US-Militärgericht durchgeführt wurde“, erklärte Mag. Dr. Herwig Czech, Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands.

„Acht der 61 Angeklagten waren Ärzte oder medizinisches Hilfspersonal; sieben davon wurden wegen Verbrechen gegen Häftlinge hingerichtet. Und dieser Prozess stellte auch eine Verbindung zwischen dem KZ-System und dem Euthanasieprogramm der Nazis her, das in Österreich vor allem im Schloss Hartheim, Oberösterreich, durchgeführt wurde“, so Czech. In Hartheim waren zwischen Mai 1940 und Dezember 1944 rund 30.000 Menschen ermordet worden. „Hartheim ist ein gutes Beispiel für die Lückenhaftigkeit der gerichtlichen Aufarbeitung dieser Verbrechen nach 1945“, fuhr Czech fort. „So wurde von den Hartheim-Mitarbeitern im Mauthausen-Prozess nur ein einziger, nämlich Vinzenz Nohel, angeklagt (und zum Tode verurteilt); und Nohel stand in der Hierarchie von Hartheim ganz unten.“

Rasche Rehabilitation und Fortsetzung der Karriere

Österreicher war auch Wilhelm Beigl­böck, der in Dachau u.a. an den „Meerwasserversuchen“ beteiligt war und sich im Nürnberger Ärzteprozess als nicht schuldig bekannte. Er wurde zunächst zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt, doch bereits 1951 zusammen mit einer Reihe anderer deutscher Kriegsverbrecher wieder freigelassen. Schon ein Jahr später konnte Beiglböck, rehabilitiert durch eine Kommission der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, eine Stelle als Primarius in Buxtehude antreten. „Das Interesse für die Urteile des Nürnberger Ärzteprozesses in der österreichischen Öffentlichkeit ebenso wie in der Ärzteschaft hielt sich in äußerst engen Grenzen – sie wurden kaum zur Kenntnis genommen“, so Czech.

Von Nürnberg nach Helsinki: Historische Ethikrichtlinie

„Der Nürnberg-Code, der aus diesem Prozess resultierte, muss als Debatte gesehen werden, die sowohl im Nürnberger Gerichtssaal als auch außerhalb davon stattfand“, erläuterte der britische Historiker Prof. Paul Weindling, Oxford Brookes University, Großbritannien. Da der Nürnberg-Code aus einem amerikanischen Militärgerichtssaal kam (allerdings mit dem Anspruch, Teil des internationalen Rechts zu werden), kann man behaupten, dass die 1964 von der World Medical Association beschlossene und seither oft revidierte und ergänzte Deklaration von Helsinki die erste freiwillig von der medizinischen Profession ausgehende internationale Ethikrichtlinie für medizinische Forschung war. Sie stellt bis heute das wichtigste Dokument auf diesem Gebiet dar. „Es gibt keinen Ersatz für die Helsinki-Deklaration“, sagte Prof. Dr. Urban Wiesing, Universität Tübingen.

V.l.n.r.: Univ.-Prof. Dr. Markus Müller, Mag. Dr. Herwig Czech, Univ.-Prof. Dr. Christiane Druml, Univ.-Prof. Dr. Paul Weindling.
V.l.n.r.: Univ.-Prof. Dr. Markus Müller, Mag. Dr. Herwig Czech, Univ.-Prof. Dr. Christiane Druml, Univ.-Prof. Dr. Paul Weindling.

Prof. Dr. Jonathan Moreno (Sohn von Jacob Levy Moreno, der in Wien studiert hatte und später als Erfinder von Psychodrama und Gruppenpsychotherapie bekannt wurde) wies in seiner Key-Note-Rede bei der Konferenz darauf hin, dass es bereits 1931 in Deutschland „Forschungsrichtlinien des Reichsinnenministeriums“ gegeben hatte, in denen die meisten Prinzipien des Nürnberg-Codes und der Deklaration von Helsinki vorweggenommen waren. Und Moreno merkte kritisch an, dass in den USA noch in den späten 1940er-Jahren – zu einer Zeit, als der Nürnberg-Code schon formuliert war – durchaus auch noch fragwürdige Forschung stattgefunden hat.

Seine Beispiele: die absichtliche Infektion von Menschen in Guatemala mit sexuell übertragbaren Erkrankungen (für die sich Präsident Obama 2010 ausdrücklich bei Guatemala entschuldigte) und die absichtliche Exposition von Personen mit ionisierender Strahlung im Rahmen von Atombombenversuchen. Dr. Christiane Druml wies in ihrem Vortrag darauf hin, dass aufgrund der Weiterentwicklung auf dem Gebiet der Forschungs- und Bioethik – mit den wesentlichen Protagonisten wie dem Europarat, der UNESCO, der EU und auch der nationalen Gesetzgebung − die medizinische Forschung heute so reguliert ist, dass Missbrauch verhindert wird.

Darf man Ergebnisse heute nutzen?

Der Umgang mit Körperteilen und anatomischen Zeichnungen, die letztlich von Naziopfern stammen, ist das Forschungsgebiet von Dr. Sabine Hildebrandt, Harvard University. Bekannt ist etwa der anatomische „Pernkopf-Atlas“. Im Jahr 1995 hatte eine Initiative der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem den damaligen Rektor der Universität Wien, Alfred Ebenbauer, auf die fragwürdige Herkunft der Zeichnungen des Atlas hingewiesen. Es wurde daraufhin ein Forschungsprojekt gestartet, das unter anderem zur Folge hatte, dass dieser Atlas weitgehend aus dem Verkehr gezogen wurde.

„Das ist aber nicht das Ende der Geschichte“, fuhr Hildebrandt fort. „Es gibt eine plastische Chirurgin in den USA, die den Pernkopf-Atlas weiterhin benützt, mit dem Argument, er sei durch nichts zu ersetzen und habe bereits Leben gerettet.“ Die Panel-Diskussion am Schluss des Symposiums befasste sich mit dem heiklen Thema: Sollen die Ergebnisse der KZ-Versuche in irgendeiner Form genutzt werden oder nicht? Dazu gab es unter den auf dem Podium Diskutierenden eher die Meinung, dass dies nach Prüfung des Einzelfalls, bei Erwähnung des historischen Rahmens, zumindest möglich sein sollte. Dieser Meinung wurde allerdings von einer Teilnehmerin aus Israel vehement widersprochen − Einigkeit konnte nicht erzielt werden.

Drei Vorschläge eines Experten

Prof. Dr. Bill Seidelman, Universities of Toronto and Beer-Sheva, machte abschließend drei Vorschläge, die vom ebenfalls anwesenden Rektor der Medizinischen Universität Wien, Univ.-Prof. Dr. Markus Müller, auch öffentlich angenommen wurden:

  1. Die MedUni Wien möge zusammen mit dem Verlag Elsevier, der die Pernkopf-Zeichnungen besitzt, eine Gedenkstätte für die Opfer errichten, die für den Atlas oder andere vergleichbare Zwecke missbraucht wurden.
  2. Die Originalzeichnungen, die dem Pernkopf-Atlas zugrunde liegen, mögen in dieser Gedenkstätte zusammen mit einer Dokumentation zur Erinnerung an die Opfer ausgestellt werden.
  3. Die Ergebnisse einer derzeit laufenden jüdisch-ethischen Untersuchung zur Frage, ob und wie diese Zeichnungen nutzbringend verwendet werden können/sollen, mögen von einer Kommission aus Mitgliedern von Elsevier und der MedUni Wien umgesetzt werden.

* Faulstich, H.: Die Zahl der „Euthanasie“-Opfer. In Frewer A., Eickhoff C. (Hrsg.): Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik, 2000; 218–229

Der Nürnberg-Code

Ein Teil der Verteidigungsstrategie der im Nürnberger Ärzteprozess Angeklagten bestand in der Behauptung, die von ihnen angeordneten bzw. durchgeführten Experimente hätten sich nicht wesentlich von jenen unterschieden, die vor dem Zweiten Weltkrieg durchgeführt wurden (explizit wurden Wagner-Jaureggs Malaria-Experimente genannt, die heute zweifellos als unethisch eingestuft würden).

Der Chefankläger im Nürnberger Ärzteprozess, General Telford Taylor, hatte den in Wien als Sohn einer jüdischen Familie geborenen Dr. Leo Alexander zu seinem medizinischen Berater ernannt. Nachdem Alexander an der Aufarbeitung medizinischer Nazi-Experimente mitgearbeitet hatte, formulierte er sechs Punkte, in denen er versuchte, legitime medizinische Versuche zu definieren. Im Urteil des Ärzteprozesses wurden weitere vier Punkte hinzugefügt, die zusammen den sogenannten Nürnberg-Code bildeten. Sie lauten:

  1. Versuchsteilnehmer müssen nach vollständiger Aufklärung frei­willig ihre Zustimmung geben (Prinzip des „informed consent“).
  2. Der Versuch muss für die Gesellschaft positive Ergebnisse zum Ziel haben, die anders nicht erlangt werden können.
  3. Er sollte auf vorherigem Wissen (z.B. Tierversuchen), welches ihn rechtfertigt, beruhen.
  4. Der Versuch sollte so durchgeführt werden, dass unnötiges physisches und psychisches Leiden sowie Verletzungen verhindert werden.
  5. Er sollte nicht durchgeführt werden, wenn Tod oder dauerhafte Behinderungen zu befürchten sind.
  6. Das Risiko des Versuchs sollte in einem vernünftigen Verhältnis zum erwartbaren Nutzen stehen.
  7. Es müssen entsprechende Vorbereitungen getroffen werden, um die Teilnehmer vor versuchsbedingten Risiken zu schützen.
  8. Personal, das an dem Versuch beteiligt ist, muss voll ausgebildet und wissenschaftlich qualifiziert sein.
  9. Die Versuchsteilnehmer müssen die Freiheit haben, den Versuch für sich jederzeit abzubrechen, wenn sie aus körperlichen oder psychischen Gründen nicht zum Weitermachen in der Lage sind.
  10. Ebenso muss das medizinische Personal den Versuch jederzeit beenden, wenn eine Fortsetzung gefährlich wäre.

(Nicht wörtliche) Übersetzung aus dem Englischen bzw. Zusammenfassung von NH

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune