10. Feb. 2020Unfälle

Längere Ruhigstellung nach Schleudertrauma ist obsolet

Mit korrekt eingestellter Kopfstütze lässt sich die Distorsion der HWS minimieren. Hier steht sie viel zu tief.

Rumms! – plötzlich hat man den Hintermann im Heck. Das Auto mag bei vielen Unfällen wenig abkriegen, doch den Insassen sitzt der Schreck im Nacken. Für die HWS sind die meisten Schleudertraumata aber ohne Folgen. (Medical Tribune 5–6/20)

Ein Schleudertrauma (engl. whiplash injury) entsteht typischerweise nach einem Auffahrunfall mit Heckaufprall, bei der die Halswirbelsäule eine passive Beschleunigung erfährt, die in der Regel zur Überstreckung des Kopfes führt. In 90–95 % der Fälle lassen sich die Verletzungen als leicht bis mittelmäßig einstufen, sagte Sabine Drisch, Rehabilitationsmedizinerin an der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Murnau.

Man geht davon aus, dass der muskelkaterartige Nackenschmerz durch entzündlich-reparative Reaktionen nach der mechanischen Gewebeschädigung hervorgerufen wird. Das erklärt auch die typische stundenlange Latenz bis zum Auftreten der Symptome. Neben diesen Schmerzen klagen die Betroffenen zum Teil über eine Vielzahl weiterer Symptome wie Schwindel, Hörstörungen, Tinnitus, Taubheit, Kopfschmerzen, Sehstörungen, Dysphagie, Übelkeit oder Konzentrations- und Gedächtnisstörungen.

Kopfstützen richtig einstellen

Kopfstützen sollen die mechanische Belastung der Halswirbelsäule beim Auffahrunfall abmildern. Häufig sind sie aber falsch eingestellt, wie Dr. Heiko Johannsen von der Verkehrsunfallforschung der Medizinischen Hochschule Hannover betonte. Nicht umsonst heißen sie Kopf- und nicht Halsstützen. Viel zu oft werden die Stützen viel zu niedrig platziert. Sie sollten mindestens mit dem Kopf abschließen – eher noch etwas höher. Hierbei muss man berücksichtigen, dass der Körper sich bei einem Heckaufprall noch etwas nach oben streckt.

Chronifizierungsgefahr bei psychischer Vorerkrankung

Bei allen Patienten sollte eine genaue Anamnese des Verletzungshergangs und eine gründliche funktionelle Untersuchung erfolgen. Eine HWS-Fraktur lässt sich am besten durch konventionelles Röntgen ausschließen. Diskutiert wird zurzeit noch, ob es eine „Harmlosigkeitsgrenze“ von 10–20 km/h Aufprallgeschwindigkeit gibt, bei der man keinerlei strukturelle Schäden befürchten muss. Die MRT steht erst bei protrahiertem Verlauf an. Wichtig ist es, von vornherein psychische Aspekte wie das Unfallerleben anzusprechen, betonte die Referentin.

Psychische Vorerkrankungen gehen mit einem deutlich erhöhten Risiko für eine Chronifizierung der Beschwerden einher – ebenso wie ein schwelender Rechtsstreit um Schadensersatz und Schmerzensgeld. Degenerative Vorerkrankungen im HWS-Bereich muss man ebenfalls berücksichtigen. So leiden nicht wenige Menschen auch ohne Autounfall in der Vorgeschichte unter den gleichen Symptomen. Entwickeln Patienten mit WAD 1 und 2 (whiplash associated disorder, s. Kasten unten) längerfristige Beschwerden, spricht das in der Regel klar für eine somatoforme Störung, sagte die Rehabilitationsmedizinerin.

Klassifikation WAD (whiplash associated disorder)

WAD 0
Keine Nackenbeschwerden, keine physischen Zeichen

WAD 1
HWS-Beschwerden in Form von Schmerzen, Steifigkeit, Überempfindlichkeit

  • keine objektivierbaren Ausfälle
  • symptomfreies Intervall von 12–16 Stunden
  • Beschwerdedauer < 1 Monat
  • Dehnung und Zerrung des HWS-Weichteilmantels

WAD 2
HWS-Beschwerden wie unter 1 plus muskuloskelettale Befunde

  • Funktionseinschränkung
  • palpatorische Überempfindlichkeit
  • kein symptomfreies Intervall (< 1 Stunde, aber bis 8 Stunden möglich)
  • Beschwerdedauer Wochen bis Monate

WAD 3
HWS-Beschwerden wie unter 1 plus neurologische Befunde

  • abgeschwächte oder aufgehobene Muskeleigenreflexe
  • Paresen
  • sensible Defizite

WAD 4
HWS-Beschwerden wie unter 1 plus HWS-Fraktur oder Dislokation

Patienten darüber aufklären, dass nichts „kaputt“ ist

Eine längere Ruhigstellung gilt heute als obsolet. Maximal kann für einige Tage eine weiche Halskrawatte getragen werden. Ansonsten setzt man auf eine frühzeitige aktivierende Behandlung mit physikalischen und physiotherapeutischen Maßnahmen zur muskulären Rebalancierung und -stabilisierung. Bedeutung hat darüber hinaus die Psychoedukation mit Aufklärung der Patienten, dass nichts „kaputt“ ist, erklärte die Kollegin. Zusätzlich können im Akutstadium für max. vier Wochen NSAR zum Einsatz kommen. In subakuten Fällen hat sich zudem die Gabe von niedrig dosiertem Amitriptylin (25–125 mg/d) bewährt. Das beste Mittel stellt aber die rasche Reintegration in den Alltag dar, sagte die Referentin. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sollte daher eine Dauer von 2–6 Wochen nicht überschreiten.

Deutscher Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) 2019

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune