7. Juni 2021Rare Diseases Dialog 2021

Telemedizinische Betreuung ausbauen

Patienten mit seltenen Erkrankungen sind in der Covid-19-Pandemie verstärkt auf Telemedizin angewiesen. Dieser Ansatz könnte in Zukunft weiter ausgebaut werden.

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„Der eingeschränkte Zugang zu Gesundheitsleistungen im Zuge der Covid-19-Pandemie trifft ganz besonders Menschen mit seltenen Erkrankungen“, weiß Michaela Weigl, Vorsitzende der Gesellschaft für MukoPolySaccharidosen (MPS), Vorstandsmitglied von Pro Rare Austria, Dachverband für Patientenorganisationen und Selbsthilfegruppen im Bereich der seltenen Erkrankungen. „Die Pandemie hat manches, was vorher schon schwierig war, noch schwieriger gemacht“, seufzt die Patientenvertreterin.

Dabei sind jene Patienten mit seltenen Erkrankungen, die bereits in entsprechender Behandlung sind, vergleichsweise gut davongekommen. „Bei Patienten, die man gut kennt, war eine eingeschränkte Betreuung auch über Telefon oder WhatsApp möglich“, berichtet Univ.-Prof. Dr. Daniela Karall, stellvertretende Direktorin der Innsbrucker Kinderklinik, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde und Obfrau des Vereines Forum Seltene Krankheiten. „Wirklich gelitten haben jene Patienten, die noch keine Diagnose und kein Netzwerk haben“, bedauert die Spezialistin für angeborene Stoffwechselstörungen: „Diese Patienten sind uns in diesem schwierigen Jahr verloren gegangen.“

Gemeinsam digitaler werden

Das bestätigt auch eine Umfrage der Pharmig, der Interessenvertretung der österreichischen pharmazeutischen Industrie, die kürzlich auf dem regelmäßig stattfindenden „Rare Diseases Dialog“ präsentiert wurde. Demnach haben die Patienten aus Sorge vor einer Ansteckung mit Covid-19 ihre Besuche bei Ärzten stark reduziert.

Die Umfrage belegt aber auch, dass telemedizinische Angebote vermehrt genutzt wurden. Am meisten haben die Patienten mit seltenen Erkrankungen telefonische Beratung in Anspruch genommen, außerdem nutzten sie diverse Internetseiten, Webinare und Livestreaming. „Die Vielfalt dieser digitalen Nutzungsmöglichkeiten wird von der Mehrheit der Befragten positiv bewertet“, erklärt Dr. Sylvia Nanz, Medical Director der Pfizer Corporation Austria und stellvertretende Vorsitzende des Pharmig Standing Committee Rare Diseases.

Die Teilnehmer der Befragung zeigten sich überzeugt, dass digitale Möglichkeiten in Zukunft verstärkt genutzt werden – sowohl zur Interaktion zwischen Patienten, Ärzten und sonstigen Behandelnden als auch zur Informationsbeschaffung. „Der gemeinsame Wunsch ist es, digitaler zu werden – als wirkungsvolle Ergänzung zum bestehenden Angebot“, resümiert Nanz und fordert unter anderem eine bessere telemedizinische Grundausstattung, Schulungen und Vermittlung von technischem Know-how sowie ein stärkeres Bekanntmachen bestehender digitaler Nutzungsmöglichkeiten.

Eine Ampel für Empfehlungen

Wie eine digitale Plattform aussehen könnte, die Patienten mit seltenen Erkrankungen durch personalisierte telemedizinische Betreuung unterstützt, schildert Univ.-Prof. Dr. Alexander Gaiger, Programmdirektor Telemedizin, eHealth, Machine Learning und Psychoonkologie an der Medizinischen Universität Wien. Vorbild für „Orphan-Web“, wie er seine Vision nennt, ist das Fernüberwachungssystem ASyMS (Advanced Symptom Management System) für Patienten mit einer Krebserkrankung. „Dieses System blickt auf 17 Jahre Entwicklung und Routineerfahrung mit führenden Universitäten Europas zurück und hat sich in zahlreichen klinischen Studien bewährt“, bekräftigt Gaiger. Seine Effektivität, Akzeptanz und Wirksamkeit sei in der eSMART-Studie, der weltweit größten prospektiven randomisierten eHealth-Studie im Bereich Hämato-Onkologie, belegt worden.

Das System kann wie eine App auf jedem Smartphone installiert werden, offiziell freilich handelt es sich um ein Medizinprodukt, das entsprechend zertifiziert ist und allen Anforderungen der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) entspricht. Dabei übermitteln die Patienten definierte Daten (u.a. Symptome, Temperatur, Puls) täglich oder bei Bedarf via Smartphone oder Sensoren in Echtzeit an die Behandler. Die Daten werden dann nach erprobten Algorithmen ausgewertet und einer Teletriage unterzogen.

Dabei wird ein Ampelsystem verwendet: Grün hat zur Folge, dass die Patienten Empfehlungen für Maßnahmen bekommen, die sie zu Hause durchführen können; steht die Ampel auf Gelb (moderate Symptome) oder Rot (schwere lebensbedrohliche Symptome), dann wird automatisch das klinische Team, das den Patienten betreut, alarmiert. Leuchtet die Ampel gelb, dann werden die Patienten innerhalb von acht Stunden von medizinischen Fachkräften angerufen; leuchtet sie rot, meldet sich das klinische Team innerhalb von Minuten telefonisch bei dem betroffenen Patienten. „Die medizinische Fachkraft bekommt den Alarm datenschutzkonform auf das Smartphone – sie ist also auch außerhalb des Spitals oder der Ordination erreichbar“, erklärt Gaiger. Er nennt auch einen weiteren Nutzen des Systems: Die Symptome des Patienten werden graphisch dargestellt. „Auf diese Weise lassen sich Muster erkennen, zum Beispiel der Einfluss von Medikamenten auf die Symptome“, erläutert der eHealth-Experte.

Gaiger vergleicht seine Vision mit der Flugsicherung: „Wenn der Patient einmal diagnostiziert und gut eingestellt ist, dann kommt er gut alleine zurecht. Wenn es allerdings zu einem kritischen Ereignis kommt, wird Orphan-Web aktiv.“ Doch von einem derartigen System ist man im Bereich der seltenen Erkrankungen noch weit entfernt. Dass das Potenzial der Telemedizin bisher nicht ausgeschöpft wurde, erklärt Gaiger folgendermaßen: „Die Lösungen entsprachen nicht den Anforderungen. Telemedizinische Anwendungen müssen die Arbeit erleichtern und die Kosten senken. Bei vielen Anwendungen war das Gegenteil der Fall.“

Telemedizin strukturiert weiterentwickeln

Die Covid-Krise könnte jedenfalls ein Erstarken der Telemedizin mit sich bringen: „Die Covid-19-Pandemie hat wie in einem Brennglas gezeigt, dass Telemedizin strukturiert weiterentwickelt werden muss“, unterstreicht Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Till Voigtländer, Leiter des Nationalen Büros für die Umsetzung und Weiterführung des Nationalen Aktionsplans für seltene Erkrankungen (NAP.se). Große Hoffnung dabei setzt er in den „digitalen Gesundheitsraum“, dessen Etablierung sich die Europäische Kommission auf die Fahnen geheftet hat.

Rare Diseases Dialog, Mai 2021, www.pharmig-academy.at

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune