Affektive Störungen aus forensischer Perspektive

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Die Prävalenz von affektiven Störungen bei Gefängnisinsassen wird oftmals unterschätzt. Der Einfluss von Depressionen und Manien auf die Delinquenz ist im Gegensatz zur Schizophrenie weniger präsent. Suizidalität ist eine häufige Komplikation und stellt insbesondere unter Haftbedingungen eine therapeutische Herausforderung dar. Obwohl der Anteil affektiv Erkrankter im Maßnahmenvollzug gering ist, verdeutlicht der folgende Artikel, wie wichtig eine adäquate Behandlung ist. (CliniCum neuropsy 3/20)

Affektive Erkrankungen werden nach ICD-10 in Störungen eingeteilt, die eine Veränderung der Stimmung als Hauptsymptom zeigen, wobei entweder depressive Zustandsbilder oder eine gehobene Stimmung vorliegen. Anhand der Verteilung, Dauer und Qualität der Symptome werden affektive Störungen in manische (F30.x) oder depressive (F32.x) Episoden oder bipolar affektive (F31.x) oder rezidivierend depressive Störungen (F33.x) unterteilt. Darüber hinaus werden unter F34.x anhaltende affektive Störungen, wie die Zyklothymie oder die Dysthymie definiert, welche Kriterien für die F30-33-Diagnosen nicht gänzlich erfüllen.

Unterschiede betreffen hier hauptsächlich Schwere oder Chronizität der Symptome. Depressive Erscheinungsbilder können differenzialdiagnostisch bei organischen Störungen, Substanzabhängigkeiten sowie bei Anpassungsstörungen auftreten. Letztere treten als Reaktion auf entscheidende Lebensveränderungen oder nach belastenden Lebensereignissen oder Krisen auf, die nicht selten zu einem Zerfall des sozialen Netzwerkes führen. Symptome umfassen neben einer depressiven Verstimmung häufig Angst oder Sorgen. Außerdem kann ein Gefühl bestehen, mit den alltäglichen Gegebenheiten nicht zurechtzukommen, diese nicht vorausplanen oder fortsetzen zu können. Insbesondere bei erstmaliger Inhaftierung und damit einhergehenden Herausforderungen und Belastungen sind Anpassungsstörungen häufig vorhanden und von affektiven Störungen abzugrenzen.

Weltweit befinden sich mehr als zehn Millionen Menschen in Haft. Psychische Erkrankungen bei inhaftierten Personen sind sehr häufig. Die Versorgung ist mitunter mangelhaft, sodass in manchen Ländern der Anteil psychisch Kranker in Gefängnissen höher ist als in Krankenhäusern. Daten zur Prävalenz von depressiven Störungen und Psychosen im Gefängnis gelten als besonders gesichert. Ein rezenter systematischer Review zeigt, dass die Prävalenz der unipolaren Depression in Haft sechsmal höher ist als in der Normalbevölkerung. Weiters leiden zwei bis sieben Prozent aller Inhaftierten an einer bipolaraffektiven Störung, was ebenso einen wesentlichen Unterschied zur Normalbevölkerung darstellt.

Delinquenz bei affektiver Erkrankung

Bei affektiven Erkrankungen kann es im Kontext unterschiedlicher Symptome zu delinquenten Verhaltensweisen im juridischen Sinne kommen, wenngleich laut mehreren Untersuchungen im deutschsprachigen Raum affektive Erkrankungen einen eher geringen Anteil an der psychischen Krankheitslast von straffällig gewordenen Personen darstellen und auch im Maßnahmenvollzug nur einen geringen Teil des Patientenkollektivs betreffen. Im internationalen Vergleich scheint es hier zu teils widersprüchlichen Beobachtungen zu kommen. Für Nordamerika wird beispielsweise ein deutlich höherer Anteil affektiv Erkrankter in Haftanstalten sowie forensisch-psychiatrischen Krankenanstalten berichtet. Eine Erklärung hierfür liefert möglicherweise die Orientierung an verschiedenen Diagnosemanualen.

Während Kollegen aus Nordamerika nach DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 4th Edition) eher eine affektive Erkrankung [manische (DSM-IV 296.44) oder depressive Episode (DSM-IV 296.34)] mit psychotischen Merkmalen diagnostizieren, würde ein und derselbe Patient in Europa, orientiert am ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases 10th, edition), eher die Diagnose einer Schizophrenie erhalten. Wenngleich affektiven Erkrankungen im mitteleuropäischen Kontext eine quantitativ eher geringe Rolle im Straf- und Maßnahmenvollzug zukommt, kann doch eine erhöhte Kriminalitätsrate bei Patienten, die zumindest einen stationären Aufenthalt aufgrund einer affektiven Erkrankung in der Anamnese aufweisen, im Vergleich zur Normalbevölkerung, gefunden werden.

Es zeigen sich auch Unterschiede bei der Betrachtung affektiv erkrankter Frauen im Gegensatz zu Männern. Untersuchungen beschreiben ein doppelt so hohes Risiko für erkrankte Männer straffällig zu werden, bei Gewaltverbrechen liegt die Rate sogar sechsmal so hoch. Hierbei ist anzumerken, dass sich die Delinquenz affektiv Erkrankter in der Regel gemäß ihrer Symptomatik unterscheidet, so schlagen sich psychopathologische Unterschiede typischerweise auch in den mit der Erkrankung vergesellschafteten Delikten nieder. In diesem Kontext sind vor allem die Begriffe „erweiterter Suizid“ oder „Mitnahmesuizid“ interessant. Die Unschärfe dieser häufig synonym verwendeten Begriffe ist immer wieder Thema fachlicher Diskussionen. Aus psychiatrischer Sicht ist es akkurater, von einem Tötungsdelikt mit anschließendem Suizid oder anschließendem Suizidversuch zu sprechen, was auch den internationalen Begriffen „homicide-suicide“ und „homicide-suicide attempt“ entspricht.

Studien aus Nordamerika haben wiederholt Raten an die 0–0,5 Fälle pro 100.000 Einwohner gefunden, eine Untersuchung aus der Bundeshauptstadt Wien dokumentierte 20 Fälle über einen Zeitraum von zehn Jahren. Tötungsdelikte mit anschließendem Suizid oder Suizidversuch werden häufig als typisches Delikt bei bestehender depressiver Erkrankung verstanden, wobei dies lediglich auf zwei Drittel der Fälle zutreffen dürfte, der Rest verteilt sich auf Personen mit Schizophrenie oder Persönlichkeitsstörungen. Auch kann eine depressive Erkrankung in vielen Fällen zu einer eingeschränkten oder aufgehobenen Erwerbsfähigkeit führen, welche wiederum sekundär vor allem Eigentumsdelikte oder Ersatzfreiheitsstrafen bei Zahlungsverzug bedingen können. Der unmittelbar reduzierte Antrieb bei depressiven Zustandsbildern kann auch zu Vernachlässigung von beruflichen Pflichten führen, was häufig disziplinarrechtliche Konsequenzen hat.

Den Gegensatz hierzu bilden Delikte, die typischerweise im Rahmen von Manien begangen werden. Durch relative Selbstüberschätzung und einen gesteigerten Antrieb kommt es beispielsweise vermehrt zu Verstößen gegen die gesellschaftliche Ordnung. In besonderem Maße sind hier Verkehrsdelikte, wie das Ignorieren der Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung oder das Fahren unter dem Einfluss von Alkohol oder anderen Drogen, Sittenwidrigkeiten, wie Zechprellerei, bis hin zu Delikten gegen die physische Integrität von Mitbürgern, bedingt durch herabgesetzte Impulskontrolle und Reflexionsfähigkeit, wie (tendenziell leichte) Körperverletzung und Sexualdelikte (von Nötigungen bis zu Vergewaltigung), zu nennen.

Hinsichtlich der Prognose einer weiteren bzw. erneuten Delinquenz zeigen sich Unterschiede zwischen depressiven und manischen Zustandsbildern. Betrachtet man Straftaten im Rahmen von Depressionen, so ist bei adäquater Therapie von einem eher geringen Risiko erneuter Delinquenz auszugehen. Bei manischen Zustandsbildern muss der Umstand der möglichen Dissimulation in Betracht gezogen werden. An einer bipolar-affektiven Störung erkrankte Personen, die den Zustand der (Hypo-) Manie schätzen, versuchen möglicherweise einer ärztlichen Behandlung durch Verbergen der Symptome zu entgehen, was insbesondere bei hypomanen Episoden mitunter gut gelingen kann.

Wird die Erkrankung nicht erkannt und demnach nicht adäquat behandelt, ist jedoch auch nicht von einer Risikoreduktion hinsichtlich weiterer potenzieller Straftaten auszugehen. In Fällen von affektiven Störungsbildern kann obendrein ein erheblicher Anteil an komorbiden Substanzabhängigkeiten (F1X), inklusive Alkohol, erfasst werden. Verschiedene Autoren sprechen von rund 20 bis 60 Prozent an affektiv erkrankten Häftlingen, die eine komorbide F1X-Diagnose nach ICD-10 aufwiesen. Eine Doppeldiagnose von affektiver Störung mit einer Suchterkrankung oder auch einer antisozialen Persönlichkeitsstörung ist mit einem erhöhten Risiko vergesellschaftet, wieder straffällig zu werden.

Maßnahmenvollzug

Im Rahmen gewisser Befundkonstellationen können sich Symptome affektiver Erkrankungen auch auf die Einsichts- und Urteilsfähigkeit von Patienten zum Deliktzeitpunkt auswirken und in der Folge strafrechtlich relevante Folgen haben. Trotz der relativ hohen Prävalenzraten von affektiven Störungen in Haft spielen diese im Maßnahmenvollzug nach §21 Abs 1 StGB, also in der Betreuung psychisch kranker, zurechnungsunfähiger Straftäter, nur eine untergeordnete Rolle. Im Rahmen einer manischen Episode kann es jedoch neben Antriebssteigerung, gehobener oder gereizter Stimmung und überhöhter Selbsteinschätzung auch zu psychotischen Symptomen, wie Größen-, Liebes-, Beziehungs- oder Verfolgungswahn mit oder ohne Halluzinationen kommen.

Besonders im Rahmen solcher manischen Episoden mit psychotischen Symptomen, aber auch bei schweren depressiven Episoden mit psychotischen Symptomen ist eine etwaige Kausalität der Symptomatik auf die begangene Straftat zu beleuchten und adäquat zu behandeln. Zur Abklärung einer potenziellen Zurechnungsunfähigkeit zum Deliktzeitpunkt wird meist nach der Festnahme durch das zuständige Gericht ein externer psychiatrischer Sachverständiger beauftragt, ein medizinisch-psychiatrisches Gutachten über den Beschuldigten zu erstellen. Dies geschieht unter dem Gesichtspunkt der geltenden Rechtslage.

Seit dem Jahr 1975 ist in Österreich im §11 des Strafgesetzbuches (StGB) verankert, dass eine Person nicht schuldhaft handelt und demnach auch nicht bestraft werden darf, wenn diese zum Tatzeitpunkt aufgrund einer „Geisteskrankheit, einer geistigen Behinderung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder einer anderen schweren, einem dieser Zustände gleichwertigen seelischen Störung“ unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen (Diskretionsvermögen) oder nach dieser Einsicht zu handeln (Dispositionsvermögen). Die Fragestellung an den Gutachter ist folglich zu beurteilen, ob eine zugrundeliegende psychische Störung vorliegt und ob diese sich zum Tatzeitpunkt auf die Erkenntnisfähigkeit und Willensbildung ausgewirkt hat. Ist ein Straftäter nach Einschätzung eines gerichtlich beeideten Sachverständigen zum Tatzeitpunkt zurechnungsunfähig und damit nicht schuldfähig, wird in weiterer Folge bis zur Verhandlung die Therapie in einem psychiatrischen Krankenhaus durch das Gericht angeordnet.

Dies wird durch §429 Abs 4 der Strafprozessordnung (StPO) geregelt. Für die Einweisung in die vorbeugende Maßnahme nach §21 Abs 1 StGB müssen gewisse Voraussetzungen gegeben sein. Das Strafmaß für das begangene Delikt muss die Dauer von einem Jahr überschreiten. Ferner muss eine ungünstige krankheitsbedingte Kriminalprognose bestehen, bei der ein weiteres schweres Delikt zu erwarten ist. Die Anordnung einer vorbeugenden Maßnahme erfolgt auf unbestimmte Zeit, die Notwendigkeit einer Fortsetzung wird jedoch einmal jährlich überprüft. Ein wesentliches Ziel ist ein Abbau der Gefährlichkeit, um den Schutz der Gesellschaft zu gewährleisten. Neben der Maßnahme nach §21 Abs 1 StGB, welche zurechnungsunfähige psychisch kranke Straftäter betrifft, muss an dieser Stelle der Vollständigkeit halber auch die Maßnahme nach §21 Abs 2 StGB erwähnt werden.

Diese betrifft zum Tatzeitpunkt zurechnungsfähige psychisch kranke Straftäter (häufig Personen mit Persönlichkeitsstörung, die ein Sexualdelikt begehen) und spielt bei Personen mit affektiven Störungen kaum eine Rolle. Bei einer Einweisung in den Maßnahmenvollzug nach §21 Abs 2 StGB wird von einer (teilweisen) Schuldfähigkeit ausgegangen, weshalb verurteile Personen sowohl eine entsprechende Therapie im Rahmen der Maßnahme erhalten, aber ebenso die Dauer der ausgesprochenen Strafhaft verbüßen müssen. Im Falle einer rechtskräftigen Einweisung in die Maßnahme nach §21 Abs 1 erfolgt die weitere Behandlung und Betreuung in speziellen Zielanstalten. In Österreich sind hier die forensisch-therapeutischen Zentren der Justizanstalt Göllersdorf und Asten und für weibliche Patientinnen die Vierte Psychiatrische Abteilung für Forensische Psychiatrie des Landesklinikums Mauer zu nennen.

Mit 31.12.2018 befanden sich laut des Berichts „Maßnahmenvollzug §21 Abs 1 StGB“ 542 Untergebrachte im österreichischen Maßnahmenvollzug. Die Anzahl an vorläufig Angehaltenen gemäß §429 Abs 4 StPO belief sich im Jahre 2018 auf 75 Personen. Die kumulierte Prävalenz beider Gruppen weist den bisher höchsten Wert auf und überschritt erstmalig die 600er-Schwelle. Im Jahr 2007 belief sich die Prävalenz der affektiven Erkrankungen im Maßnahmenvollzug auf lediglich 2,8 Prozent, während 70,6 Prozent der Patienten eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis aufwiesen. Die Gesamtzahl der Einweisungen in den Maßnahmenvollzug ist in den letzten vier Jahren exorbitant gestiegen. Die Anzahl der Neueinweisungen übertrifft mittlerweile bei Weitem die Entlassungen, was zu einer immer größeren Zuspitzung und Überlastung des Systems führt.

Entlassungen aus dem Maßnahmenvollzug sind durch §47 Abs 2 StGB geregelt und werden initial stets bedingt, das heißt an bestimmte Voraussetzungen gebunden, ausgesprochen. Die bedingte Entlassung erfolgt gewöhnlich unter einer Probezeit von fünf bis zehn Jahren, wenn die Gefährlichkeit nicht mehr gegeben und von einem „redlichen Fortkommen“ auszugehen ist. Weiters werden verbindliche Weisungen durch das Gericht ausgesprochen, wie z.B. regelmäßige fachärztlichpsychiatrische Kontrolluntersuchungen und Adhärenz der verordneten Psychopharmakotherapie, die mittels Plasmaspiegelbestimmungen verifiziert wird, Screenings hinsichtlich Konsum illegaler psychotroper Substanzen und betreutes Wohnen zur Erleichterung der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Der betreuende Facharzt ist dazu verpflichtet, regelmäßige Berichte an das zuständige Gericht zu verfassen (zumeist einmal im Quartal). Werden Auflagen nicht eingehalten, wird das zuständige Gericht unverzüglich darüber informiert. Derartige Weisungsbrüche können zum Widerruf einer bedingten Nachsicht mit Wiedereinweisung in den stationären Maßnahmenvollzug unverzüglich zur Folge haben.

Suizidalität

Ein weiteres, äußerst wichtiges Thema im Kontext von Patienten mit affektiven Störungen ist die deutlich erhöhte Suizidbelastung. Diese liegt nach einmaligem stationären Aufenthalt um die 15 Prozent bei unipolarer Depression und bei Vorliegen einer bipolar-affektiven Störung sogar bei 15 bis 30 Prozent. Suizid und beinahe tödliches, selbstverletzendes Verhalten stellen bei inhaftierten Personen ein nicht zu unterschätzendes Risiko dar. In einer Datenerhebung aus zwölf westlichen Staaten hat sich gezeigt, dass das relative Risiko eines Suizides bei Inhaftierten deutlich höher ist als in der Normalbevölkerung. Während das relative Risiko für erkrankte Männer mit 3–6 angegeben wird, liegt es bei Frauen über 6.

Im Jahr 2018 waren im europäischen Mittel 22,7 Prozent der Todesfälle in Haft auf einen Suizid zurückzuführen, wobei auch von einer Dunkelziffer bei den ungeklärten Todesursachen ausgegangen werden muss. Wie aus dem jährlichen Bericht des Europarates zum Strafvollzug der Mitgliedstaaten hervorgeht, melden die meisten europäischen Länder jährliche Suizidraten zwischen 100–150 pro 100.000 Insassen. In Österreich lag die Suizidrate im Jahr 2018 bei 132,3 pro 100.000 Insassen, was mehr als dem Neunfachen der Suizidrate der österreichischen Allgemeinbevölkerung (14,5 pro 100.000 Einwohner) entspricht. Neben dem Risikofaktor der Haft gibt es zusätzliche Risikofaktoren, wie in der Normalbevölkerung.

Ein erhöhtes Risiko besteht bei denjenigen Personen, die unter einer psychischen Erkrankung leiden. Neben affektiven Störungen sind Substanzabhängigkeiten und Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis zu nennen, wobei Komorbiditäten eine wichtige Rolle spielen. Ein besonderes Risiko zeigt sich auch bei Personen, bei denen bereits in der Vergangenheit suizidale Handlungen dokumentiert sind und bei denjenigen, die unter akuten Suizidgedanken leiden. Das Gefährdungsrisiko für einen Suizid ist in den ersten 30 Tagen nach der Inhaftierung am höchsten. Diese Zeit ist häufig mit einer Anpassungsleistung an die Gefängnissituation assoziiert, die sich in Kombination mit Ungewissheit und Ängsten vor der Gerichtsverhandlung und der drohenden Strafdauer besonders bei Häftlingen mit psychischen Erkrankungen zu einem scheinbar nicht zu bewältigenden Sorgenmeer anhäufen können.

Eine andere besondere Gefährdung ergibt sich zudem durch soziale Isolation, wie sie beispielsweise bei Unterbringung in einem Einzelhaftraum auftritt. Das soziale Umfeld eines Gruppenhaftraumes kann eine wichtige Ressource darstellen, man kann sich unter „Peers“ austauschen und ist somit eher bereit, sich gegenüber Professionisten zu öffnen und ist in weiterer Folge eher einer ärztlichen oder psychologischen Behandlung zugänglich. Weiters werden Gelegenheiten, einen Suizid zu begehen, durch Mitinsassen im Haftraum reduziert, was zusätzlich zu den niedrigeren Suizidraten in Mehrpersonenhafträumen beiträgt. Einen weiteren Risikofaktor stellt die Dauer der ausgesprochenen Haftstrafe dar. Während eine lebenslange Haftstrafe mit einem erhöhten Risiko einhergeht, wirkt sich eine Haftstrafe von unter 18 Monaten protektiv aus. Im Gegensatz zum schützenden Aspekt von gemeinschaftlichen Hafträumen fanden manche Autoren auch einen Zusammenhang zwischen Suizidraten und der Überbelegung von Haftanstalten.

Ein Grund hierfür könnte einerseits sein, dass suizidgefährdete Insassen nicht ausreichend vom Justizpersonal wahrgenommen werden können. Ein anderer Nachteil von überbelegten Haftanstalten (Crowding) in Bezug auf Suizidraten könnte sich durch Überforderung durch besonders verschärfte Lebensumstände von Insassen ergeben. Mit einem niedrigen Betreuungsverhältnis und einem Überbelag von Hafträumen reduzieren sich auch die Möglichkeiten, sinnstiftenden Tätigkeiten und förderlichen sozialen Interaktionen nachzugehen. Österreich bewegt sich mit der Auslastung von Haftanstalten über dem europäischen Mittelfeld. Wie aus dem jährlichen Bericht des Europarates zur Statistik im Strafvollzug aus dem Jahr 2018 hervorgeht, liegt in Österreich die mittlere Auslastung bei knapp über 100 Prozent, während sich das europäische Mittel um 88 Prozent bewegt.

Aus der konstant hohen Prävalenz von Suiziden in Haft hat sich die Notwendigkeit ergeben, ein besonderes Augenmerk auf die Prävention zu legen. Im praktischen Umgang hat dies auch international zu konkreten Maßnahmen geführt, die zu einem Rückgang der Suizidraten beitragen konnten. Bereits bei der Inhaftierung sollte ein sorgfältiges Screening für selbstgefährdendes Verhalten erfolgen, dabei sollte nicht nur der gegenwärtige Eindruck, sondern auch die psychiatrische Anamnese, vor allem auch hinsichtlich affektiver Erkrankungen einfließen. In Wien wurde ein spezielles Instrument unter dem Acronym „VISCI“ (Viennese Instrument for Suicidality in Correctional Institutions) entwickelt. Mittels VISCI erfolgt eine ärztliche bzw. psychologische Risikoevaluation, die im Insassenverwaltungssystem verschiedenen Personalgruppen zugänglich ist.

Neben der anfänglichen Risikoevaluation sollte die Suizidalität auch in regelmäßigen Intervallen durch psychiatrisches Fachpersonal weiter evaluiert und eingeschätzt werden. Hiermit lassen sich besonders gefährdete Personen besser schützen, indem spezielle Präventionsmaßnahmen eingeleitet werden können. Neben einer möglichst kontinuierlichen, intensiven psychiatrischen Behandlung und Betreuung der Insassen und einer adäquaten Psychopharmakotherapie werden zudem regelmäßige Schulungsmaßnahmen für das Justizpersonal, forciert. Zu ganz konkreten, unmittelbaren Präventionsmaßnahmen, Suizide in Haft zu verhindern, gehört auch die bauliche Gestaltung von Hafträumen. In diesem Kontext stellen die vorübergehende Verlegung in besonders gesicherte, videoüberwachte Hafträume und auch die Sicherstellung potenziell gefährlicher Gegenstände, die für autoaggressive und suizidale Handlungen benützt werden könnten, wichtige Schritte dar. Bei mäßiger Gefährdung kann ein einfacher Haftraumwechsel von einem Einzelhaftraum in einen Mehrpersonenhaftraum als Erstmaßnahme genügen.

Statement und Ausblick

Abschließend ist zu sagen, dass die richtige Diagnosestellung gefolgt von einer adäquaten, leitlinienbasierten Behandlung affektiver Störungen essenziell sind, um Betroffene sowohl vor schwerwiegenden Komplikationen ihrer Erkrankung, wie Suizidalität, als auch delinquenten Verhaltensweisen bestmöglich zu schützen. Auch in der Versorgungspsychiatrie sollten mögliche forensische Aspekte affektiver Störungen daher in Behandlungsentscheidungen miteinfließen. Die hohe Prävalenzrate von affektiven Störungen und anderen psychischen Erkrankungen in Haft sowie die stetig steigende Anzahl von Patienten im Maßnahmenvollzug setzt eine flächendeckende, qualifizierte fachärztlichpsychiatrische Versorgung in Gefängnissen für eine legeartis Behandlung voraus. Aktuell verfügbare Ressourcen tragen vor allem Veränderungen im Maßnahmenvollzug zu wenig Rechnung und können den steigenden Betreuungsbedarf nur teilweise/unzureichend decken.

Literatur bei den Verfassern

DDr. Gernot Fugger (verantwortlicher Autor)
Dr. Godber M. Godbersen, Dr. Paul Michenthaler, Dr. Jakob F. Unterholzner Klinische Abteilung für Allgemeine Psychiatrie, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien

Fallbericht

Im folgenden Fallbericht wird die Krankengeschichte eines Patienten mit bipolar-affektiver Störung (Herr M.) in Haft bzw. im Maßnahmenvollzug nach §21 Abs 1 StGB skizziert.

Herr M., 39 Jahre alt, wird am 29.11.2018 in die Justizanstalt Wien-Josefstadt eingeliefert. Der Patient wird beschuldigt, am 28.11.2018 in Wien, Mödling, Baden, Wiener Neustadt und Neunkirchen vorsätzlich eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit und die körperliche Sicherheit anderer herbeigeführt zu haben, indem er mit einem Kleinwagen vor der Polizei davonraste und trotz Lautsprecherdurchsagen, Blinkzeichen, Signalhorn, Hubschraubereinsatz und mehreren Straßensperren mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit auf der feuchten B17 raste, sodass mehrere Fußgänger an Schutzwegen zurückspringen und Autos abrupt ausweichen mussten, um eine Kollision zu verhindern. Erst nach einer Verfolgungsjagd über 70 Kilometer kann Herr M. schließlich von der Polizei erfolgreich gestoppt werden.

Im Rahmen der Erstuntersuchung in Haft, der sogenannten Zugangsuntersuchung, präsentiert sich der Angeklagte distanzlos, logorrhoisch, äußert Größenideen, die Stimmung ist deutlich gehoben, der Antrieb gesteigert, Herr M. tanzt und singt im Ambulanzbereich. Es lässt sich erheben, dass Herr M. seit seinem 20. Lebensjahr an einer bipolar-affektiven Störung leidet und seither durchgehend fachärztlich psychiatrisch behandelt wird. Unter einer Monotherapie mit Lithium ist der Patient über Jahre hinweg psychopathologisch stabil, geht einer geregelten Arbeit nach und ist niemals straffällig. Im Jahr vor dem Anlassdelikt ist Herr M. allerdings aufgrund einer schweren depressiven Episode mehrere Monate an einer psychiatrischen Abteilung in Kärnten stationär aufgenommen.

Der Patient unternimmt zwei Suizidversuche, einmal durch Kohlenmonoxidintoxikation, ein weiteres Mal durch Eröffnen der Pulsadern. Erst wenige Wochen vor dem Anlassdelikt wird Herr M. aus dem Krankenhaus entlassen, da eine deutliche klinische Besserung der depressiven Episode eintritt. Herr M. lebt nach der Entlassung aus dem Krankenhaus bei der Mutter, daher lässt sich außenanamnestisch die Entwicklung einer Manie mit psychotischen Symptomen gut nachvollziehen. Im weiteren Verlauf in Haft kommt es, aufgrund von Distanzlosigkeit und gelockerter Impulskontrolle, zu zahlreichen Konflikten mit Mitinsassen und Justizwachebeamten. Herr M. wird fast täglich von einem Facharzt für Psychiatrie begutachtet und muss nach unzähligen Haftraumwechseln an der Krankenabteilung behandelt werden.

Unter einer Therapie mit Valproinsäure und Olanzapin klingt das manische Zustandsbild allmählich ab, Herr M. entwickelt in weiterer Folge eine depressive Episode, die erst unter einem Therapiewechsel im Sinne einer Kombinationstherapie aus Lithium, Escitalopram und Aripiprazol remittiert. Bereits kurz nach der Inhaftierung, im Jänner 2019 bestellt die zuständige Haftrichterin einen externen psychiatrischen Sachverständigen zur Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit des Beschuldigten im Sinne des §11 StGB sowie seiner Gefährlichkeit im Sinne des §21 Abs 1 bzw. Abs 2 StGB. Aus dem Gutachten des Sachverständigen geht hervor, dass der Beschuldigte zum Tatzeitpunkt aufgrund einer bipolar-affektiven Störung mit zusätzlicher paranoider Erlebnisverarbeitung zurechnungsunfähig ist, eine ungünstige Kriminalprognose aufweist und somit die Voraussetzungen der vorläufigen Anhaltung gem. §429 Abs 4 StPO vorliegen.

Herr M. wird auf der Maßnahmenabteilung Z6 übernommen, die als interdisziplinäre psychiatrische Station für die Versorgung von zurechnungsunfähigen, psychisch kranken, männlichen Straftätern seit Jahren in der Justizanstalt Wien-Josefstadt etabliert ist. Unter der bereits erwähnten Psychopharmakotherapie ist der Patient euthym, nimmt am multidisziplinären Therapieprogramm teil und weist ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit hinsichtlich seiner psychiatrischen Erkrankung und der Delikte auf. Herr M. wird folglich für eine bedingte Entlassung aus der Maßnahme vorbereitet. Hinsichtlich Sicherstellung eines geeigneten sozialen Empfangsraumes wird Herr M. von Mitarbeitern des Vereins zur Förderung von Wohnraumbeschaffung (Wobes), welche in der forensischen Nachbetreuungseinrichtung „Projekt 21/1“ arbeiten, aufgesucht und erhält die Zusage für einen betreuten Wohnplatz mit sofortiger Wirkung.

Das Antipsychotikum Aripiprazol wird noch im stationären Setting auf ein langwirksames Depotpräparat als Off-Label-Therapie bei bipolar-affektiver Störung umgestellt. Im Rahmen der Hauptverhandlung im Juni 2019 wird Herr M. mit den Weisungen bei Wobes zu leben, verpflichtend an einer Tagesstruktur teilzunehmen, regelmäßig seine Medikation einzunehmen und die Depotmedikation im Rahmen vorgeschriebener ärztlichen Kontrollen an einer ambulanten Nachbetreuungsambulanz für Forensische Psychiatrie zu erhalten, bedingt entlassen (=bedingte Nachsicht). Seit Herr M. die Justizanstalt Wien-Josefstadt 2019 verlassen hat, ist er psychopathologisch stabil und hält sich an sämtliche Weisungen. Die nächsten Schritte beinhalten eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt und mittelfristig die Vorbereitung, wieder alleine zu leben. Die Auflage Psychopharmaka regelmäßig einzunehmen wird üblicherweise auf eine fünf- bis zehnjährige Probezeit weiterhin beibehalten und durch regelmäßige fachärztliche Berichte an das zuständige Gericht weiterhin überprüft.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum neuropsy