Onkologie in Wien 2030: „Wir haben fünf nach zwölf“

BARBARA KROBATH

Für die onkologische Versorgung in Wien besteht seit 2016 ein Konzept, ein gutes, wie Vertreter verschiedener Onko-Fächer im Gespräch mit der krebs:hilfe! erklären. Trotzdem schafft es den Sprung vom Papier zur Realisierung nicht. Inzwischen werden die Probleme nicht kleiner, sondern größer. „Was muss passieren, damit sich wirklich etwas ändert?“, war die große Frage beim krebs:hilfe!-Round-Table im November 2019. (krebs:hilfe! 12/19)

krebs:hilfe!: Seit der Vorstellung des Spitalskonzeptes 2030 durch den Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) hat sich einiges getan. Wo stehen wir derzeit im Bereich der onkologischen Versorgung?

Grünberger: Ich war begeistert, als es 2016 die Idee der Zentralisierung im KAV gab. Damals wurden drei Krebszentren neben der Universitätsklinik präsentiert, jeweils eines in den drei Wiener Regionen, die aus je zwei Spitälern bestehen. In diesen Zentren soll eine Spezialisierung für chirurgische Onkologie stattfinden. Im Onkozentrum Süd, dem Kaiser-Franz-Josef-Spital, soll meine Spezialisierung, die der Leber-Galle-Pankreas-Chirurgie, abgebildet werden. In unserem Partnerspital in der Region Süd sind Spezialisierungen auf Adipositas- und Schilddrüsenchirurgie vorgesehen.

Grünberger: „Überregionale Tumorboards, in denen alle Krebspatienten des KAV besprochen werden, sind immer noch Vision.“

In der Region West sollen im Onkozentrum Wilhelminenspital Tumore des oberen GI-Trakts, d.h. Magen- und Ösophaguskarzinom, operiert werden. Im dritten Zentrum, in der Region Nord/Ost, soll es um schwierige Kolorektal-Eingriffe, z.B. das tiefe Rektumkarzinom, gehen. Ich bin seit April 2018 im Onkozentrum Süd tätig. Es ist geplant, im Rahmen überregionaler Tumorboards all jene Patienten zu besprechen, die im KAV mit der Diagnose der jeweiligen Spezialisierung auffallen. Leider ist der gewünschte und intendierte Progress in diesen essenziellen Entwicklungen schleppend und Verbesserung notwendig.

Warum funktioniert es nicht?

Grünberger: Weil die Politik viele unnötige Einflussfaktoren hat und das, was geschrieben steht, nicht konsequent ausspricht. Notwendiges muss einfach in unserem System öfters auf den Tisch gebracht werden, bevor Änderung vollzogen wird.

Sevelda: Ich kann hier nur anschließen, es gibt keinen Fortschritt, ich unterstreiche das. Meiner Meinung nach liegt es daran, dass man Papierkonzepte entwickelt, die schon in den ersten Schritten der Umsetzung scheitern. Ob es das Spitalskonzept 2030 oder Neubaupläne sind, da wird geplant, extern vergeben, Konzepte werden erstellt. Aber spätestens beim Gemeinderat, wenn’s drum geht, dass Geld dafür gebraucht wird, ist es dann aus. Das ist megafrustrierend für alle, die da Hirnschmalz hineinstecken.

Meine Erwartung wäre, dass die Politik zeitnah umsetzbare Konzepte nicht nur ankündigt, sondern so weit durchplant, dass man sie innerhalb von fünf Jahren umsetzt. Fachlich kämpfe ich seit Jahren für eine Zentralisierung des Eierstockkrebses, da gibt es auch ganz klare Evidenz ähnlich wie beim Pankreas- oder Ösophaguskarzinom. Auch ich bin 25 Jahre lang daran gescheitert, weil das alle Häuser machen wollten. Mittlerweile will keiner mehr Ovarialkarzinome operieren, sich keiner mehr derart vertiefen. Denn es ist mehr Arbeit als Lob und Ehre.

Wie ist die Situation im Bereich der Strahlentherapie?

Schratter-Sehn: Wir haben den Vorteil, dass wir immer Zentrumsbildung hatten, einfach weil die Strahlentherapie so ein hochkomplexer und teurer Bereich ist. Vor dreißig Jahren hab’ ich die Chance bekommen, ein drittes großes Zentrum in Wien am Kaiser-Franz-Josef-Spital aufzubauen. Wir haben damals schon eine Zentrumsbildung vor allem in der Ganzkörperbestrahlung und Kinderbestrahlung an der Uniklinik gehabt, während ich die sogenannte ‚breite Strahlentherapie‘ mit modernsten Geräten bei uns in der Peripherie aufgebaut habe.

Ich bin damals in den Gemeinderat gegangen und hab’ gesagt, ich brauch’ zwei effiziente Geräte, die baugleich sein müssen, um erstmals ein Ausfallskonzept zu haben. Damals gab es erste Ideen über die volle Digitalisierung in Bild und Krankengeschichte. Ich war weltweit die Erste, die diese Digitalisierung hatte, und die ganze Welt von Korea bis Kanada ist zu mir gekommen, um sich das anzuschauen. Dadurch hatten wir externe Expertise und meine Mannschaft hat sehr viel gelernt. 2012 konnte ich dann High-End-Geräte anschaffen, wieder zwei baugleiche, da hab’ ich dann schon sehr kämpfen müssen. Heute habe ich für die Hochpräzisionsbestrahlung zwei Geräte, wo wir sehr viele Patienten mit einem sehr kompetenten Team behandeln können.

Unsere Spezialitäten behandeln wir zentrumsübergreifend. Das, was wir nicht spezialisiert machen können, schicken wir an die Klinik oder an Abteilungen, die dafür ausgestattet sind. Wir haben zum Beispiel die Möglichkeit der stereotaktischen Strahlentherapie, frameless, also ohne Rahmen, sowohl für Kopf als auch Körper, dafür haben wir auf die Ausrüstung für die Brachytherapie verzichtet. Denn die kann ich an der Klinik oder im SMZ Ost machen lassen. Das ist der Vorteil unseres Faches, dass wir so teuer sind, dass wir uns wirklich in unserer Community überlegen müssen, wer kann was? Wir versorgen zum Beispiel das Hanusch-Krankenhaus und die Rudolfstiftung mit und das fließt ja auch in die Zentrumsbildung der Onkologie ein. Es wird wahrscheinlich 1+3-Strahlentherapien geben, die wienweit mit ihren Kompetenzen und Ausstattungen in jedem Bereich für Spezialisierung sorgen.

Wie kann die weitere Spezialisierung in den anderen Bereichen gelingen?

Gnant: Ich glaube, dass da eine wichtige Hoffnung für die Zukunft drinnen ist. Es ist nämlich mittlerweile vieles so teuer, dass die ursprünglich einer Zentralisierung entgegenstehenden Interessen eigentlich keine Rolle mehr spielen. Früher wollte jeder „so viel wie möglich“ behandeln. Mittlerweile ist das Gegenteil realisiert, teilweise bis hin zu Versorgungsengpässen in manchen Fächern. Ich glaube, dass das in Wahrheit eine große Chance für sinnvolle Zentrumsbildung ist. Wir haben leider auch diesen Patiententourismus, der irgendwie gelenkt ist. Es muss ja einen Grund haben, warum praktisch alle hämophilen Patienten auch mit Bagatelloperationen nie woanders als im AKH behandelt werden. Das kann man ja sagen, dass man es so machen will, weil es dafür Expertise und sehr teure Medikamente braucht, aber dann müssen eben die Ressourcen auch entsprechend alloziert werden.

Gnant: „Mittlerweile ist vieles so teuer, dass die ursprünglich einer Zentralisierung entgegenstehenden Partikular-Interessen eigentlich keine Rolle mehr spielen dürfen.“

Es ist jetzt an der Zeit, dass man ehrlich zu den Menschen ist und ihnen nicht das Blaue vom Himmel verspricht. Man muss es sich miteinander überlegen und da gibt es sehr gute Ansätze im VCC. Die Versorgungsleistung muss natürlich da sein. Aber: Ein Patient kann sich fast nirgends auf der Welt aussuchen, wo er mit einer bestimmten Indikation hingeht. Sondern es gibt ein sinnvolles zentrales Leistungsmanagement, und dann wird die Leistung eben dort angeboten, wo das am besten möglich ist. Das kann und muss man dann laufend überprüfen. Da ist einfach kein Platz für die partikularen Interessen eines einzelnen Bezirksvorstehers, Primarius, Ordinarius oder was auch immer.

Schratter-Sehn: Ich seh’s eigentlich insgesamt gar nicht so negativ. Du (zu Prof. Grünberger) wirst als Experte mit diesem Zentrum auch die Möglichkeiten und Wege finden. Das Problem ist, dass die anderen halt mitspielen müssen. Es bekommt jeder seine Bereiche, wo er gut und besser und outstanding wird. Und wenn der Zuweiser mitspielt, dann spielen auch die Patienten mit.

Was braucht es, um uro-onkologische Patienten auch in Zukunft bestmöglich zu versorgen?

Rauchenwald: Das Grundkonzept des KAV stimmt ja. Eine Konzentration von fachlicher Expertise ist notwendig. Aber ich sehe momentan vor allem ein Problem: Durch das Arbeitszeitgesetz wurden wir in einen Personalengpass hineingedrängt. Früher wurde gearbeitet, bis die Arbeit fertig war. Jetzt klemmt es vorne und hinten. Mit vielen kleinen Teams schaffen wir es einfach nicht mehr. Wir brauchen eine Konzentration, sodass wir einen größeren Personalpool haben. Leider lässt sich das nicht beliebig aufstocken. In der Urologie haben wir einen Fachärzte-Engpass, der immer schlimmer wird. Wir brauchen eine Konzentration des Personals, damit wir die sehr gute vorhandene Infrastruktur adäquat auslasten können. Vieles liegt brach, weil Personal, vor allem Anästhesisten, fehlen. Es gibt einen internationalen Anästhesistenmangel.

Stichwort Jungärzte: Wie kann der onkologische Nachwuchs am besten gefördert werden?

Schratter-Sehn: Auch die Strahlentherapie zählt zu den effektiven Mangelfächern. Es ist die Frage, ob wir in sieben Jahren nach dem Pensionsboom alle Stellen besetzen können. Da ist wichtig, dass wir als flexible moderne Chefärzte durch unsere Kompetenzen interessierte Mitarbeiter finden. Die heutige Jugend hat den Wunsch nach einer besseren Work-Life-Balance, und das muss präsent werden. Wenn wir jetzt, auch bedingt durch den Ärztemangel, eine Zentrumsbildung haben und die Work-Life-Balance einbauen können, z.B. nur jeden dritten Tag oder nur einmal die Woche rund um die Uhr Dienst haben, dann werden wir die junge Generation gewinnen. Und das Argument, dass es dann nicht geht, die Ausbildung an einem Haus zu machen, greift nicht. Ich hab’ alle meine Leute an die Klinik geschickt, das hat sogar KAV- und MedUni-übergreifend funktioniert.

Schratter-Sehn: „Wichtig ist, dass wir als flexible moderne Chefärzte interessierte junge Mitarbeiter finden und deren Wunsch nach besserer Work-Life-Balance ernst nehmen.“

Rauchenwald: Ich habe zum Beispiel jetzt drei Monate einen Mitarbeiter aus Niederösterreich, nicht einmal in Rotation, sondern weil er was anderes sehen will. Das zu realisieren, mit zwei unterschiedlichen Trägern, wäre früher nie möglich gewesen.

Schratter-Sehn: Das verbessert auch spitalsübergreifend die Kommunikation. Wir haben zum Beispiel eine Kollegin für das MedAustron ausgebildet. Aber somit wissen wir auch, wohin wir uns wenden müssen, wenn wir einen Patienten für MedAustron haben.

Sevelda: Es steht auch in der Ausbildungsordnung, dass ein Teil der Ausbildung woanders erfolgen muss. Aber da versagt die Administration total. Um an die Klinik rotieren zu können, braucht man einen Partner, der von der Klinik herausrotiert. Ich erwarte mir von der Politik, dass man das barrierefrei und zeitlich flexibel gestaltet. Die Mangelsituation in den Fächern wird von der Politik nicht wahrgenommen. Schon jetzt ist die Pathologie am Ende. Es herrschen Rahmenbedingungen, mit denen man nicht Personalpolitik machen kann. Ich sehe die Gemeinde-Wien-KAV-Häuser an die Wand fahren.

Gnant: Da ist ein Punkt, wo man am ehesten „planerisch“ ansetzen kann. Der Fachärztemangel in der Pathologie war ja absehbar, genauso absehbar ist es in der Strahlentherapie. Aber welche Maßnahmen gab es von der Politik? In Innsbruck hat sogar die Universitätsklinik für Pathologie teilweise zugesperrt und die Versorgung wurde in ein Privatlabor ausgelagert. Man wartet immer, bis es so weit ist, und ist dann völlig überrascht. Spitzenmedizin und besonders teure Leistungen gehören zentriert, Punkt. Da muss man Curricula dafür machen, da muss auch die Ärztekammer sich einbringen.

Die Spitzenmedizin muss natürlich immer wissenschaftsgeleitet sein. Es sollte drastisch erleichtert werden, sich in sogenannten Versorgungsstrukturen auch an der Wissenschaft zu beteiligen. Das alles braucht vor allem eine zentrale Planung, einen Versorgungsplan. Und was die JungärztInnen betrifft: Einfach zu sagen: „Teilzeitmodelle sind nicht möglich“, geht nicht – das wird notwendig sein, um den geänderten Anforderungen künftiger ÄrztInnengenerationen gerecht zu werden.

Sevelda: Das erkennt die Politik nicht. Die Gemeinde Wien ist ein guter Arbeitgeber, aber ich glaube nicht, dass die vorhandenen Modelle attraktiv genug sind, um dem Ärztemangel beizukommen. Auf die Dominanz des weiblichen Geschlechts stellt man sich überhaupt nicht ein. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist heute eine Grundvoraussetzung.

Rauchenwald: Wir haben jetzt 50 Prozent Frauenanteil bei den Auszubildenden in der Urologie. Ich verstehe schon, dass die nicht im Krankenhaus bleiben wollen. Welche Frau, die auch eine Familie hat, will sechs Nachtdienste im Monat machen? Das heißt, man braucht einen gewissen Personalstock, das geht nur über Zentralisierung, damit ich da flexibel bin. Prinzipiell glaube ich aber nicht, dass eine schlechte Onkologie in Wien betrieben wird. Der Level ist sehr gut und sehr hoch. Bei den modernen Medikamenten sind die Kosten enorm nach oben geschnellt, aber wir haben noch keine Restriktionen in der Hinsicht bekommen. Und ich weiß, wie sie schon mit den Kosten kämpfen.

Sevelda: Das ist schon richtig. Nur wir haben fünf nach zwölf. Diejenigen, die das System leistungsmäßig getragen haben, davon gehen sehr viele in Pension. Und die nächste Generation: Das schaut traurig aus. Wir haben vier bis sechs Nachwuchsleute, die in meinem Fach die Qualität weitertragen. Aber es sind nicht zehn. Aber wir bräuchten zehn, die super sind und nix anderes machen.

Rauchenwald: Und wir brauchen entsprechende Expertise, um neue und teure Medikamente gezielt und gut einsetzen zu können. Das werden wir uns nur leisten können, wenn wir auch verantwortungsbewusst damit umgehen.

Wie kann man die Patientenströme steuern?

Grünberger: In der Chirurgie will leider nach wie vor jeder alles machen. Zu sagen, ich kenn’ mich gut mit dem Kolorektalkarzinom aus, aber für den Ösophagus gehen S’ bitte woanders hin, ist offenbar extrem schwierig.

Sevelda: Die Politik könnte sich natürlich steuernd einbringen, beispielsweise über die Möglichkeit der Abrechnung. Wenn bestimmte Versorgungsleistungen nur an bestimmten Zentren abrechenbar sind, dann würde das sofort umgesetzt werden. Die Ärzte untereinander können es sich nicht ausmachen. Ich denke, das ist schon ein spezielles Problem der chirurgischen Fächer. Es ist immer ein bisschen so: Wer kann es besser?

Gnant: Das wird hoffentlich besser, wenn wir mehr Chirurginnen haben. Der Satz „Da gibt’s Leute, die können das besser und da schick’ ich Sie jetzt hin“, ist irgendwie vor allem bei Männern nicht üblich. Ein Argument, mit dem man die Politik nach meiner Ansicht überzeugen könnte, ist, dass, wenn diese Systeme nicht funktionieren – also ehrliche Qualitätskontrolle, Zentrumsbildung, Austausch und längerfristige Planung –, das dann automatisch zu einer Zunahme von Mehrklassenmedizin führt: Dann gibt es freie Kassenstellen, z.B. in der Gynäkologie, weil sich der junge Kollege lieber als Wahlarzt niederlässt – und viele Frauen sich auch einmal im Jahr ein Privathonorar für eine Vorsorgeuntersuchung leisten können und das auch tun.

Schlechter wird das Angebot dann aber für jene, die armutsgefährdet sind, und für jene mit Migrationshintergrund. Wenn wir in einem Versorgungsgebiet von letztlich über drei Millionen Menschen das riesige Asset Wiens und Österreichs verlieren, dass wir mit einer bestimmten Erkrankung in ein öffentliches Spital gehen können, um exzellent behandelt zu werden, dann ist das ganze System ‚at stake‘. Dazu kommt als Brandbeschleuniger der Medizinermangel. Wenn die öffentlichen Arbeitgeber sich nicht anstrengen, werden die jungen KollegInnen weiter dankend zur Vinzenz Gruppe oder ins Ausland gehen.

Wie funktioniert die Qualitätssicherung?

Rauchenwald: Es wird viel dokumentiert und zertifiziert, aber die medizinische Qualitätssicherung im eigentlichen Sinn hängt noch total in der Luft. Wir haben zwar EDV-Systeme für die Administration, aber ich kenn’ keines, das automatisch eine gute medizinische Dokumentation ermöglicht, wo ich auf Knopfdruck schauen kann, was mit meinen Patienten ist.

Rauchenwald: „Es wird viel dokumentiert und zertifiziert, aber die medizinische Qualitätssicherung im eigentlichen Sinn hängt noch total in der Luft.“

Gnant: Ich habe gehört, dass es sogar herausfordernd war, die Tumorboard-Softwares der verschiedenen Wiener Spitäler aufeinander abzustimmen – eigentlich unglaublich.

Grünberger: Im Rahmen des Vienna Cancer Center wurde die Bitte verschickt, man möge doch für die fünf viszeralchirurgisch onkologischen Großeingriffe folgende Zahlen bekannt geben: Wie lange waren die Patienten mit der jeweiligen Diagnose im Krankenhaus? Wie viele Patienten wurden mit der jeweiligen Diagnose operiert? Wie viele davon sind gestorben? Wie viele erlitten eine schwere Komplikation? Immer für einen Zeitraum von postoperativ vier Wochen. Dies wurde ausgesandt mit der Bitte um Rückmeldung der Zahlen aus den letzten drei Jahren. Am selben Tag kam von drei der KAV-Spitäler die Antwort: Wir haben kein System, dass das erfasst. Das muss uns gegeben werden. Hier ist Leitungsfunktion gefordert, ich muss die medizinische Leistung meiner Abteilung auch dann wissen, wenn man mir nicht die besten Tools zur Verfügung stellt.

Wie könnte man die Abteilungen, die laut KAV-Konzept nicht in einem Onko-Zentrum sind, sinnvoll einbeziehen?

Sevelda: Das Konzept mit drei Onko-Zentren, dem Wilhelminenspital, dem Kaiser-Franz-Josef-Spital und dem Donauspital, erscheint mir durchaus vernünftig. Man muss aber überlegen, was machen die anderen im Onko-Bereich? Das ist auf der Strecke geblieben. Diese Unsicherheit ist extrem schlecht. Das könnte man auch sehr wertvoll gestalten. Wir schauen in Hietzing gerade sehr interessiert, was das KFJ und die Rudolfstiftung machen. Wie involviert Primar Kaufmann die Rudolfstiftung? Aus dem Prozess sollten wir lernen. Statt dass man sagt, wir gestalten es intern gut, ist da jetzt ein Kampf in der Öffentlichkeit. Und: Die Gemeinde Wien hat beschlossen, dass die medikamentöse Tumortherapie zentralisiert wird in diesen Schwerpunktspitälern, tagesklinisch, unter der Leitung der internistischen Onkologie.

Grünberger: Weiters steht geschrieben, dass in einem strukturiert ablaufenden Tumorboard, wenn kein Konsens zustande kommt, was ja schon per se nicht verständlich ist, der medizinische Onkologe entscheidet.

Gnant: Ich verstehe, dass es für den Träger auf den ersten Blick attraktiv ist, wenn er für die Kostenkontrolle nur einen einzigen Ansprechpartner hat. Und ja, es kann ja nicht sein, dass Hinz und Kunz eine CAR-T-Zelltherapie verordnen. Aber den Therapieplan, den Algorithmus gesamthaft festzulegen, auch in den Guidelines, das ist ja unabhängig von den Einzelfächern und geschieht richtigerweise im interdisziplinären Konzert aller Behandler.

Grünberger: Immer wenn ich von einem internationalen Kongress zurückkomme, dann bin ich frustriert. Ich hab’ mich letztens mit einem Gastroenterologen aus Paris unterhalten, der macht nix anderes, als Pankreaskarzinom behandeln, in Zusammenarbeit mit einem Chirurgenteam, das 350 Patienten im Jahr operiert – das ist Spezialisierung! Bei uns ist als Mindestzahl zehn gefordert, und wenn einer nur sieben operiert und man sagt, das sei zu wenig, dann sagt er: „Aber voriges Jahr hab ich zwölf operiert.“

Gnant: Jene, die die zehn nicht schaffen, sind ja nicht deshalb schlechte ChirurgInnen, sondern sie finden schlicht und einfach auch nicht das interprofessionelle Environment vor, um Exzellenz anzubieten. Da geht es ja keinesfalls nur um den Operateur, sondern auch um die Intensivmedizin, die Pflege und viele andere Berufsgruppen. Die gesamte Exzellenz entsteht letztlich durch einen multiprofessionellen Prozess. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die jungen Leute das besser verstehen. Der Spirit für wirklich gute Medizin ist bei denen allen da.

Sevelda: Das möchte ich auch unterstreichen. Die Studenten sind mega-engagiert. Es sind schon die Rahmenbedingungen, die dann frustrieren. Die Verantwortlichen entscheiden nicht. Das ist aber die Managementaufgabe.

Wie funktioniert unter diesen Voraussetzungen die interdisziplinäre onkologische Versorgung?

Sevelda: Die Idee des KAV, alles unter der Generalentscheidung der internistischen Onkologie zu subsumieren ist schon deshalb gefährlich, weil das Interesse der anderen Gebiete sofort dramatisch abnimmt, wenn sie gar nicht mit der Therapieentscheidung konfrontiert sind. Also wenn man nur mehr noch auf das reduziert ist, was einem der Onkologe schickt, was man operieren soll oder nicht. Den internistischen Onkologen fehlen ja dann die Ansprechpartner, weil ich trau’ mich zu sagen, diejenigen, die sich damit beschäftigen, also wir und die Gyn auf der Klinik, kennen uns in der medikamentösen Tumortherapie in unserem Fachbereich besser aus als die internistischen Onkologen. Keine Frage. Die Onkologen sind ja auch sehr spezialisiert. Die machen auch nicht alles. Eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe wäre das ideale Modell und nicht, dass man das Ganze einer Gruppe zuteilt. Das muss attraktiv sein, dass die Leute es gemeinsam gerne machen.

Sevelda: „Die Idee, alles unter der Generalentscheidung der internistischen Onkologie zu subsumieren, ist gefährlich, weil das Interesse der anderen Gebiete sofort dramatisch abnimmt, wenn sie gar nicht mit der Therapieentscheidung konfrontiert sind.“

Schratter-Sehn: Ja, letztlich hängt es dann wirklich an uns Menschen. Wir brauchen eine persönliche Stärke, Wissen, Präsenz, Charisma, dann können wir auf Augenhöhe schauen, dass wir den Patienten wirklich optimal behandeln.

Grünberger: Von ihr (er meint Schratter-Sehn) ist immer ein sensationeller Radio-Oncologist in unseren Tumorboards.

Schratter-Sehn: Ich schau’, dass ich die empathischen Interessierten in die Onko-Boards bringe. Das können wir alle als Chefs. Wir müssen schauen, dass wir starke, gescheite Chefs behalten.

Rauchenwald: Im Donauspital haben wir eine super Kooperation mit den Onkologen. Das Tumorboard ist bei uns lokalisiert und wird von uns geleitet. Da bringt sich jeder sehr gut ein, auch mit den Radioonkologen gibt’s eine tolle Kooperation.

Gnant: Um die Frage insgesamt zu beantworten: Konzeptionell sind wir davon überzeugt, dass onkologische Exzellenz für die Patienten eben gerade durch funktionierende Interdisziplinarität und Interprofessionalität entsteht, am besten auch streng forschungsgeleitet. Alles andere wäre ein Irrweg in einem solchen Konzert von Fächern. Eine Patientin hat mich vor vielen Jahren einmal gefragt: „Warum können nicht alle Spezialisten, die mich behandeln, an einem Tisch sitzen und über mich reden und dann mit mir?“ Genau das haben wir jetzt überall mit den Tumorboards, in denen die Disziplinen gleichberechtigt vertreten sind, verwirklicht.

Wie könnte man die Nicht-Zentren und in weiterer Folge vielleicht auch den niedergelassenen Bereich sinnvoll eingliedern?

Sevelda: Lange waren die Gesellschaften der Onkologen sehr dagegen, dass onkologische Therapie in den Praxen stattfindet und die dafür notwendigen Medikamente von der WGKK übernommen werden. Das versucht Prof. Zielinski grad zu ändern und durchzusetzen, dass beispielsweise das subkutane Trastuzumab vom Hausarzt gespritzt werden kann.

Gnant: Das wäre natürlich extrem sinnvoll. Aber manche haben das jahrzehntelang verhindert und jetzt plötzlich, wo den Spitälern das Geld ausgeht, sollen niedergelassene Kollegen Antikörper verabreichen. Ich finde das gut, aber der niedergelassene Bereich wird darauf vorbereitet werden müssen. Da braucht es Fortbildung, Ausbildungsgänge, vielleicht ein Zusatzdiplom für interessierte Hausärzte oder z.B. zwei niedergelassene Fachärzte einer Disziplin mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Das ist alles möglich, aber es geht wohl nicht von heute auf morgen. Die medikamentöse Onkologie ist ja auch in Deutschland und in den USA heute sehr stark im niedergelassenen Bereich.

Schratter-Sehn: Das liegt aber schon an der Finanzierung durch die Sozialversicherungsträger. Es wird einfach durch die Sozialversicherungen im ambulanten Bereich nichts finanziert.

Gnant: Da gab’s früher einmal ein Projekt engagierter Spitalsmitarbeiter aus einem Wiener Spital, die Menschen zu Hause betreut haben, die kurz vorm Sterben waren. Das wurde damals beendet, weil die Spitalsapotheke sich weigerte, die dabei verwendeten Infusionen zu zahlen, die eigentlich die Gebietskrankenkasse zahlen hätte sollen. Finanzierung aus einer Hand wäre hier die unbedingte Voraussetzung – es scheint, als wäre man hier in Westösterreich deutlich weiter.

Der erste Schritt wäre die proaktive Einbeziehung des niedergelassenen Bereichs ins Komplikationsmanagement und durchgehende empathische Patientenbetreuung. Ich verstehe total, dass der Hausarzt fachlich oft überfordert ist und den schwerkranken Patienten ins Spital schickt, weshalb die Spitalsambulanzen – und manchmal dann auch die Betten – voll sind mit Patienten mit Kachexie, Anämie etc., mit Problemen, die vielerorts auf der Welt von einer „Flying Nurse“ oder einem mobilen Palliativteam mit Infusion, Transfusion etc. daheim behandelt werden.

Schratter-Sehn: Der praktische Arzt kriegt pro Patient pro Quartal einen Betrag. Und wenn ein Patient mit Nebenwirkungen kommt, dann ist der jeden zweiten Tag dort. Also es ist ein Finanzierungsproblem der Sozialversicherungen, einerseits für unsere Patienten, andererseits für den Medizintourismus aus Deutschland und aus dem Südosten.

Vielen Dank für das Gespräch!

Gesprächsteilnehmer

Univ.-Prof. Dr. Michael Gnant
Präsident der Austrian Breast and Colorectal Cancer Study Group
MedUni Wien und CCC Vienna

 

 

Univ.-Prof. Dr. Thomas Grünberger
Vorstand der Abteilung für Chirurgie
Hepato-Pancreato-Biliary Center, Vienna Clinics
Sozialmedizinisches Zentrum Süd – Kaiser-Franz-Josef-Spital, Wien

 


Prim. Univ. Doz. Dr. Michael Rauchenwald

Abteilung für Urologie und Andrologie
Sozialmedizinisches Zentrum Ost – Donauspital Wien

 

 

Prim. Univ.-Doz. Dr. Annemarie Schratter-Sehn
Institut für Radioonkologie
Sozialmedizinisches Zentrum Süd – Kaiser-Franz-Josef-Spital, Wien

 

 

Prim. Univ.-Prof. Dr. Paul Sevelda
Präsident der Österreichischen Krebshilfe
Gynäkologisch-geburtshilfliche Abteilung Brustgesundheitszentrum Hietzing – KH Hietzing mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel, Wien

 

Anmerkung: Die insgesamt neun internistischen Onkologen (KAV-Häuser, Hanusch-Krankenhaus, MedUni Wien, Häuser der Vinzenz Gruppe), die von der Redaktion zum Round Table eingeladen wurden, waren leider verhindert.