19. Sep. 2018

„Umarmungen bereiten Schmerzen“

Dr. Christine Preißmann klärt in ihren Büchern und Vorträgen über Autismus auf – nicht nur als Ärztin und Psychotherapeutin, sondern auch als selbst davon Betroffene. (Medical Tribune 38/18)

Christine Preißmann hielt in Wien einen viel beachteten Vortrag.

Zwei Ärztinnen im Gespräch: „Ich könnte in die Luft gehen“, sagt die eine. „Wohin fliegst du?“, fragt die andere nach dem Ziel der geplanten Urlaubsreise. Was wie ein Scherz klingt, ist eines der Missverständnisse, wie sie Dr. Christine Preißmann in ihrem Alltag erlebt und von denen sie in ihren Vorträgen erzählt. Die Ärztin, Psychotherapeutin und Autorin erhielt im Alter von 27 Jahren die Diagnose Asperger- Sydrom. Heute arbeitet sie auf einer Teilzeitstelle im Suchtbereich einer psychiatrischen Klinik in Hessen, wo ihr der geplante und strukturierte Tagesablauf sehr entgegenkommt, wie sie berichtet: „Nahezu unmöglich war für mich die Tätigkeit in einer Hausarztpraxis, wo ich mich in sehr schneller Folge auf neue und immer andere Patienten einstellen musste.“ Mit ihren Büchern und Vorträgen möchte Preißmann über Autismus aufklären und Mut machen, dass das Leben auch mit Autismus gelingen kann, wenn Betroffene nicht alleingelassen werden, und dass „oftmals auch in aussichtslos erscheinenden Fällen eine ausreichende Stabilität erreicht“ werden könne.

Diagnose oft sehr spät

Zusammengefasst werden die verschiedenen Formen des Autismus – vom Asperger-Syndrom bis hin zum frühkindlichen Autismus – unter dem Überbegriff der Autismus-Spektrum- Störung, wobei man von einer Häufigkeit von etwa ein Prozent der Bevölkerung ausgeht. Zwei Drittel der Betroffenen sind im Erwachsenenalter, und auch wenn in der Theorie der frühkindliche Autismus spätestens mit drei Jahren diagnostiziert sein sollte und das Asperger-Syndrom mit fünf Jahren, erhalten auch heute noch viele Betroffene die Diagnose erst als Jugendliche oder Erwachsene. Viel zu spät, meint Preißmann, denn erst nach einer exakten Diagnose seien Hilfe und Verbesserungen im Alltag möglich. Da Betroffene die Diagnose oft als Befreiung erleben, rät sie dazu, auch Kindern möglichst frühzeitig eine Erklärung für ihr Anderssein anzubieten und dabei nicht nur die Schwächen, sondern auch die Stärken autistischer Menschen mitzuteilen.

Für Schulkinder empfiehlt sie die Einforderung des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Aus ihrer eigenen Schulzeit berichtet Preißmann von Knieschmerzen, denen sie heute eine „deutliche psychosomatische Komponente“ zuschreibt, denn sie hätten ihr ermöglicht, die Pausen im Klassenraum zu verbringen, vom Sportunterricht befreit zu werden und nicht auf Partys und in Discos gehen zu müssen. Denn gerade die soziale Interaktion bereite autistischen Menschen die größten Schwierigkeiten, so Preißmann: mit anderen ein Gespräch zu beginnen und am Laufen zu halten oder auch Mimik, Gestik und Blickkontakt anzuwenden und richtig zu interpretieren. Aufgrund des wörtlichen Sprachverständnisses komme es beim Gebrauch von Redewendungen und Metaphern zu Missverständnissen. Leichte Berührungen und Umarmungen, wie sie teilweise zur Begrüßung üblich seien, würden oft als unangenehm empfunden: „Das ist etwas, was sich für viele von uns nach Schmerzen anfühlt, auch wenn wir sonst Schmerz häufig nicht so gut wahrnehmen können“, erklärt Preißmann. Auch im Hinblick auf Temperatur und den eigenen Körpergeruch bestehe oft eine Unterempfindlichkeit, und Körperempfindungen könnten nicht richtig zugeordnet werden.

Dr. Christine Preißmann
Ärztin, Psychotherapeutin und Autorin

So habe sie selbst immer deutlich zu viel gegessen, erzählt Preißmann: „Körperempfindungen wie Hunger, Durst, Müdigkeit und Erschöpfung fühlen sich für mich nahezu identisch an.“ Sobald ihr aber der Zusammenhang zwischen Nahrungsaufnahme, Bewegung und Gewichtszunahme klar geworden war, habe sie innerhalb weniger Monate 40 Kilogramm abgenommen: „Ich begann einfach, die Nahrungsaufnahme zu kontrollieren, was mir nicht schwerfiel.“ Neben Unterempfindlichkeiten gebe es auch eine Überempfindlichkeit der Sinne, insbesondere gegenüber akustischen und taktilen Reizen. In chaotischen und lauten Umgebungen, wie etwa Einkaufszentren oder Bahnhöfen, komme es daher leicht zu Zuständen der Reizüberflutung, und dieses Gefühl der Überforderung wiederum führe insbesondere bei Kindern manchmal zu Wutausbrüchen. Hilfreich bei Reizüberflutung könnten Kälte und fester Druck durch Gegenstände sein, berichtet Preißmann: kaltes Wasser zu trinken oder über die Unterarme laufen zu lassen, Eiswürfel zu lutschen, kalt zu duschen sowie Gewichtsdecken oder feste Westen zu benutzen. „Ich selbst habe mich, wenn ich als Kind der Reizüberflutung nah war, in meinem Zimmer auf den Boden gelegt und meinen Couchtisch mit der Tischplatte nach unten auf mich gestapelt“, erzählt Preißmann.

Psychologische Begleitung

Autistische Menschen seien oft motorisch ungeschickt und bräuchten Hilfe bei scheinbar einfachsten Aufgaben, „während wir schwierige Anforderungen manchmal nahezu mühelos bewältigen können“, so Preißmann. Ihr selbst habe erst im Alter von 15 Jahren jemand beigebracht, wie man richtig die Hand schüttle und wie man das Wort „Hallo“ richtig betont. Aufgrund der Schwierigkeiten autistischer Menschen, durch bloßes Beobachten und Nachahmen zu lernen, empfiehlt Preißmann, mit ihnen intensiv zu üben. Etwa die Hälfte bis zwei Drittel aller von Autismus betroffenen Menschen leiden an einer begleitenden Depression, wobei Antidepressiva oft nicht helfen. Preißmann: „Auch ich fand in den schwer depressiven Phasen keine Medikamente, die mir geholfen hätten. Was mir tatsächlich geholfen hat, ist die psychologische Begleitung.“

Wie kann gute Unterstützung aussehen? Preißmann empfiehlt etwa eine Autismus-spezifische Therapie in einem entsprechenden Therapiezentrum oder bei niedergelassenen Experten. Sie selbst arbeite seit 20 Jahren mit einer Psychotherapeutin und seit etwa acht Jahren zusätzlich mit einer Ergotherapeutin: „Und gerade in den letzten Jahren habe ich die größten Fortschritte in meinem Leben gemacht.“ Auch eine begleitende Selbsthilfearbeit sei hilfreich. Gerade in schwierigen Phasen brauche es ermutigende Beispiele anderer betroffener Menschen. Wichtig sei in allen Lebensbereichen und Altersstufen die Strukturierung. Im Umgang mit autistischen Menschen sollte auf Ironie in der Sprache oder mehrdeutige Äußerungen verzichtet werden und für alles etwas mehr Zeit gegeben werden, wünscht sich Preißmann: „Das ist etwas, was ich auch den ärztlichen Kollegen immer wieder sage.“

Buchtipp
Christine Preißmann: Autismus und Gesundheit – Besonderheiten erkennen, Hürden überwinden, Ressourcen fördern
Verlag Kohlhammer 2017,
ISBN 978-3-17-032028-4

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune