8. März 2021AIC DIGITAL

PEERs: psychologische Hilfe für Einsatzkräfte im Notfall

Weiße Handschuhe zum Modell. Kampf gegen das Coronavirus. Zwei medizinische Arbeiter machen eine Fauststoßgeste.
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Fachkräfte in der Notfallmedizin stehen häufig psychischen Stresssituationen gegenüber. Welche Faktoren sich auf das Erleben von Stress auswirken und wie Stressbewältigung im klinischen Alltag mittels eines Peer-Systems funktionieren kann, davon berichteten Experten am Online-Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI).

Psychischer Stress ist dann zu viel, „wenn sich eine Person diesem Stressor nicht gewappnet fühlt“, erklärt Mag. Christian Langer, Gesundheitspsychologe und Chef des Heerespsychologischen Dienstes. Jeder Stressor wird zunächst primär auf seine Bedrohung für die eigene Person bewertet: Droht ein Schaden oder ein Verlust? Wenn nicht, bleibt eine Stressreaktion üblicherweise aus. Wenn doch, geht es in einem zweiten Schritt darum, die eigenen Bewältigungskompetenzen für diese Situation einzustufen: Ist genügend Zeit vorhanden und sind adäquate Ressourcen verfügbar, um sich darum zu kümmern? Sind diese vorhanden, wird aller Wahrscheinlichkeit nach nur eine mäßige Stressreaktion folgen, so Langer.

Der optimale Stress-Bereich

Der Zusammenhang zwischen Leistungsfähigkeit und „Aktiviertheit“ beziehungsweise Stress lässt sich mit einer umgekehrt U-förmigen Kurve darstellen: „Mit Zunahme der Aktiviertheit steigt zunächst auch die Leistung bis zu einem ‚optimalen Bereich‘, in dem Leistungen wie Gedächtnis, Konzentration und logische Denkfähigkeit optimal abgerufen werden“, erläutert der Psychologe. Ab einem gewissen Punkt jedoch führt zu viel Stress ganz klar zu Leistungseinbußen – zunächst in Hinblick auf die Kommunikationsfähigkeit, später auch auf die Denkfähigkeit und schließlich auf die Handlungsfähigkeit. „Speziell für Einsatzkräfte ist es wichtig, diesen Wendepunkt hinauszuschieben, damit sie trotz hoher Aktiviertheit noch eine gute Leistung erbringen können. Wichtig ist hier die routinemäßige Unterstützung“, erläutert Langer.

Gelebte Stressbewältigung mit PEER-System

Wie Kollegen konkret bei der Stressbewältigung unterstützt werden können, zeigen zwei Ärztinnen der Universitätsklinik für Anästhesie an der MedUni Wien anhand des dort verfügbaren PEER-Systems. Eingeführt wurde das System aufgrund der erheblichen Belastungen von Mitarbeitern in der Akutmedizin, erklären Dr. Angelika De Abreu Santos und Dr. Stefanie Tichy: Die Diskrepanz zwischen Handlungsmöglichkeiten und vorgefundenen Situation ist oft groß, ebenso die Angst vor Fehlern. Dazu kommen häufige Auseinandersetzungen mit negativ besetzten Situationen sowie eine hohe Dichte an unvorhersehbaren Spannungssituationen.

Wer welche Situation als besonders belastend empfindet, oder gar ein Trauma durch ein schwieriges Ereignis erfährt, hängt u.a. von der individuellen Lebensgeschichte, dem aktuelle Befinden, der Dauer der Situation und verschiedenen Umgebungsfaktoren ab. Die möglichen Symptome sind vegetativer, somatischer oder psychischer Natur. Es kann zu gesteigerten Affekten wie Trauer, Aggression oder Angst vor Kontrollverlust kommen. Im späteren Verlauf sind Flashbacks, Albträume und sozialer Rückzug möglich, der bis zur Suizidalität gehen kann.

Notfallpsychologische Ersthelfer

PEERs sind notfallpsychologische Ersthelfer, Fachkollegen mit Kompetenz im Umgang mit Krisen und potenziell traumatisierenden Situationen, die als „Gleicher unter Gleichen“ handeln können. Die Einzel- oder -Gruppengespräche verfolgen das Ziel, akuten Stress und Belastungssymptome zu reduzieren und damit die psychische Belastbarkeit aufrechtzuerhalten bzw. wiederzuerlangen.

In der Praxis sieht das so aus: „Wenn wir geholt werden, befinden sich unsere Klienten in einer akuter Belastungssituation. Hier ist es wichtig, zu betonen, dass dies eine normale Reaktion auf eine außergewöhnlich belastende Erfahrung ist, in der gewohnte Problemlösungsstrategien nicht mehr greifen“, so Santos. Das „SAFER“-Modell umreißt die Ziele der Intervention (siehe Kasten). Im Gespräch treten die PEERs ruhig und sicher auf: Eine Verlangsamung des Gesprächs hilft gegen Übererregung, Struktur und Informationen sollen einem Kontrollverlust entgegenwirken, Akzeptanz und soziale Unterstützung gegen Entfremdungszustände helfen. Das Vorgehen erlaubt meist eine rasche Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit des Betroffenen. Bei PEER-Interventionen handelt es sich um keine Therapie im eigentlichen Sinne, betonen die Vortragenden, die Gespräche bieten aber die Möglichkeit, Kollegen zu unterstützen und frühzeitig Risikoverläufe zu erkennen – und zwar keinesfalls nur auf Notfall-Abteilungen, denn „Belastungen gibt es überall“.

„Psychischer Stress – von der Posttraumatischen Belastungsstörung zur gelebten Stressbewältigung“ Vortrag im Rahmen des Austrian International Congress (AIC) DIGITAL, dem Online-Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI), 27.11.20

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum innere