23. Feb. 2021Im Gespräch

„Wir brauchen auch Ersthelfer für die Seele!“

Vor einer zunehmenden seelischen Belastung selbst psychisch stabiler Menschen warnt der Präsident von pro mente Austria, Priv.-Doz. Dr. Günter Klug. Die Ausbildung zu „Ersthelfern für die Seele“ könnte schon bald einen Beitrag zur Krisenbewältigung liefern, berichtet er im Gespräch mit CliniCum neuropsy.


CliniCum neuropsy: Bereits im August 2020 warnten Sie davor, dass immer mehr psychisch stabile Menschen Zeichen seelischer Belastungen zeigen. Was hat sich nach Erfahrungen von pro mente seither verändert?

Klug: Insgesamt sahen wir in unseren Beratungsstellen während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 noch kaum eine Zunahme von Langzeitbelastungen – wohl auch ein Ausdruck der Hoffnung, dass die Pandemie nach dem Sommer vorüber sein werde. Sobald klar wurde, dass es weitere Einschränkungen gibt, vermehrten sich bei Ratsuchenden die Zeichen von Dauerbelastungen. Je länger die Situation dauert, desto mehr Menschen berichten chronische Stress-Belastungen. Erschwerend kommt hinzu, dass immer wieder neue Regelungen eingeführt werden – dies ist epidemiologisch zwar nachvollziehbar, in puncto Krisenbewältigung aber nicht hilfreich. Insgesamt sind derzeit viele Menschen mit ihrer Energie und Ausdauer am Ende. Selbst Jugendliche, die am Anfang noch cool reagiert haben, werden zunehmend depressiv oder aggressiv; ältere Menschen ziehen sich noch mehr zurück.

Sie warnten kürzlich in einer Pressekonferenz auch davor, dass gerade jüngere Menschen vermehrt an Einsamkeit leiden.

Die Lebensaufgaben junger Menschen – Ausbildung und Partnerschaft oder die Entwicklung von Zukunftsperspektiven – sind derzeit nur schwer zu erfüllen. Hier stellt sich die Frage, ob im Pandemie-Management nicht eine härtere Linie über einen gewissen Zeitraum, aber mit einem klaren Ausblick, wie es danach weitergeht, vorteilhafter wäre. Ältere Menschen haben zunehmenden Leidensdruck durch die eingeschränkten Beziehungen zu Familienangehörigen. Berührungen und körperliche Nähe ganz zu verbieten, kann mitunter mehr schaden als nützen und viele sagen sogar: „Wenn das nicht mehr geht, dass ich Beziehungen haben kann, dann hat das Leben keinen Sinn mehr.“

Wie tragen die „pro mente“-Einrichtungen konkret zur Entlastung bei?

Während im ersten Lockdown Beratungen weitgehend telefonisch durchgeführt wurden, hat sich das in der zweiten Phase seit dem Herbst komplett verändert: Die meisten Einrichtungen haben offen und erleben fast uneingeschränkten Zulauf. Mit Terminvergabe, Masken, Abstand und Lüftungskonzepten werden Beratungen möglichst persönlich durchgeführt – und viele Menschen kommen, weil sie es zu Hause nicht mehr aushalten und das Gespräch suchen. Aktuell bemühen wir uns darum, wie wir weiterhin persönliche Beratungen anbieten können.

Wie wird das Projekt „Erste Hilfe für die Seele“ bisher angenommen?

Das Feedback ist sehr positiv, allerdings beschränkt sich das Projekt bislang auf einen Blog mit Experten-Beiträgen und Erfahrungsberichten zur Krisenbewältigung im Sinne einer Ressourcen-Aktivierung. Sobald möglich, werden jedoch erstmals in Österreich Ausbildungen mit dem lizenzierten Programm „Mental Health First Aid“ anlaufen. Dafür ist allerdings Präsenz erforderlich. Ein großer Wunsch von uns ist es, dass Unternehmen hier einsteigen und – vergleichbar der betrieblichen Ersten Hilfe – künftig unter ihren Mitarbeitern auch psychische Ersthelfer haben.

Was wünschen Sie sich darüber hinaus im Hinblick auf die Krisenbewältigung?

Positiv ist, dass die Covid-Situation insgesamt den Blick auf seelische Belastungen schärft. In der aktuellen gesundheitspolitischen Situation und speziell im Hinblick auf die Impfungen wünsche ich mir jedoch, dass Einrichtungen an der Schnittstelle zwischen Gesundheits- und Sozialbereich wie z.B. Beratungsstellen oder mobile sozialpsychiatrische Einrichtungen etc. nicht übersehen werden. Außerdem müssen wir die Betroffenen selbst noch mehr als bisher aktiv einbinden.

Zur Person

Ein Porträtfoto von Günter Klug
Foto: pro mente Austria

Priv.-Doz. Dr. Günter Klug ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie psychotherapeutische Medizin, Obmann der Gesellschaft zur Förderung seelischer Gesundheit Graz, Obmann der Psychosozialen Dienste Steiermark – Dachverband der sozialpsychiatrischen Vereine und Gesellschaften. Als Präsident der pro mente Austria fungiert Klug seit 2018.

pro mente Austria ist der Dachverband von 24 gemeinnützigen Organisationen, die sich um die Bedürfnisse von Menschen mit psychisch-sozialen Erkrankungen kümmern, und will auch Sprachrohr für Betroffene sein. Aktuell arbeiten rund 6.000 Menschen (ca. 4.500 VZÄ) in Trägern unter dem Dach von pro mente Austria, nicht alle jedoch tragen die Bezeichnung pro mente auch in ihrem Namen. Mit der Initiative „Erste Hilfe für die Seele“ bietet pro mente Austria Unterstützung in der Krisenbewältigung und möchte künftig „Ersthelfer für die Seele“ ausbilden. www.erstehilfefuerdieseele.at

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum neuropsy