Deutscher warnt vor Fusionen
OÖGKK holt sich den Ex-Chef der AOK Bayern als „Augenzeuge“ gegen geplante Reformen. Die Botschaft: Um des Sparens willen kann man sich Fusionen sparen. In Wahrheit gehe es um eine Entmachtung. (Medical Tribune 17/18)
Er war der Chef der Allgemeinen Ortskrankenkasse Bayern mit 4,5 Mio. Versicherten und einem Budget von 16 Mrd. Euro: Dr. Helmut Platzer stand bis März 2018 einer der elf deutschen AOK-„Gesundheitskassen“ vor, die in Bayern einen Marktanteil von 40 % hat und im Wettbewerb mit rund 90 anderen gesetzlichen Krankenkassen steht. Frisch im Ruhestand nutzte er die neugewonnene Freizeit gleich aus, um auf Einladung der OÖGKK nach Linz zu fahren. Seine Mission: authentisch über Fusionserfahrungen zu berichten. Vor 22 Jahren wurden 39 bayerische AOKs zu einer einzigen großen, eben der AOK Bayern, fusioniert, heute die viertgrößte Kasse (von 110 gesetzlichen Krankenkassen) Deutschlands.
Platzer sei ein „Augenzeuge“ dafür, was Fusionen sicher nicht bewirken würden, nämlich Verwaltungskosten zu sparen, stellte OÖGKK-Obmann Albert Maringer seinen deutschen Kollegen bei einem Hintergrundgespräch vergangene Woche vor. Maringer ist Chef von 1,2 Millionen Versicherten und Herr über ein Budget von 2,3 Milliarden Euro. Die OÖGKK hat in Oberösterreich einen Marktanteil von 85 %. In den vergangenen 22 Jahren habe ihn das Thema Fusionen begleitet, holt Platzer aus und beginnt mit einer „Anekdote“: Vor fast 15 Jahren hat bei einer Podiumsdiskussion die damalige Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium angesichts „großer Auseinandersetzungen“ wegen Finanzhilfen für schwächelnde Kassen vorgeschlagen, doch eine einzige Bundes-AOK zu machen. „Da habe ich ihr mit zunehmender Leidenschaft erklärt, dass wir kein einziges Problem damit lösen!“
Ihre Antwort darauf: „Ja, genau!“ Es könne also durchaus ein politisches Anliegen sein, strukturelle Probleme in den Systemen – sowohl in Deutschland als auch in Österreich – einfach zu verdecken, verdeutlicht Platzer. Der eigene Fusionsprozess zur AOK Bayern habe ihn vor allem eines gelehrt: „Mit einer Annahme muss man von vornherein aufräumen, nämlich, dass die Verwaltungskosten niedriger werden – die Erfahrung haben wir nicht gemacht.“ Auch nicht, dass durch Fusionen die Versorgung besser oder günstiger werde. Betriebswirtschaftlich lasse sich das gut erklären: Die „Transaktionsaufwände“ seien enorm, „der Umstellungsprozess kostet erst einmal unglaublich viel Geld und muss über viele Jahre in Gang gehalten werden“.
Das habe auch der Bundesrechnungshof 2011 bestätigt: Die Fusionen in Deutschland, von 1992 bis 2010 ist die Zahl der Krankenkassen von 1397 auf 160 geschmolzen, hätten zwar in einzelnen Bereichen etwas gebracht, aber das Fazit sei unmissverständlich: Die Verwaltungskosten sinken dadurch nicht. Die Probleme reichen von Anpassung der Personalstände über doppelt besetzte Standorte bis hin zu den Vorständen, mit denen man ja auch „in irgendeiner Weise“ umgehen müsse. „Es sind zig Millionen in Beraterunternehmen, die den Vorgang begleitet haben, investiert worden“. Sehr „beeindruckend“ sei für die AOK gewesen, wie schwierig es ist, die Belegschaft mitzunehmen: Noch im Vorjahr, 22 Jahre nach der Fusion, habe man daran gearbeitet. „Es dauert eine Generation von Mitarbeitern, bis das Thema bewältigt ist“, so Platzer. Was könnte also die Rationale hinter Fusionen sein?
Für Deutschland wären dies gesetzliche „Rettungsfusionen“, um gefährdete Unternehmen vor Insolvenz zu bewahren oder mehr Wettbewerb zwischen den Kassen zu erzeugen (der Versicherte kann sich die Kasse aussuchen). Das falle in Österreich weg, überlegt Platzer. Doch der dritte Treiber dürfte zutreffen, nämlich mehr Marktmacht gegenüber den Partnern zu schaffen. Das ist Wasser auf den Mühlen der OÖGKK, die eine „Zerschlagung“ der Selbstverwaltung zugunsten einer politischen Einflussnahme wittert. Zwei „Monopolisten“, eine ÖGK und eine Ärztekammer, würden zentral von Wien aus für ganz Österreich entscheiden, zerlegt OÖGKK-Direktorin Dr. Andrea Wesenauer das „große Credo“ der Regierung, nur Verwaltungskosten sparen zu wollen. Diese seien laut der 2017 präsentierten Studie der London School of Economics (LSE) ohnedies schon niedrig.
Österreich habe 2,74 % Verwaltungskosten (alle 22 SV-Träger), Deutschland 4,9 %, die Schweiz 4,97 %. Was Wesenauer freilich nicht dazusagt: Drei von vier in der LSE-Studie vorgeschlagenen Modellen zur Hebung von Effizienzpotenzialen sind Fusionen. Modell 2 ähnelt sogar frappant einem „unveröffentlichten Vortrag an den Ministerrat“, der jüngst in der „Presse“ für Schlagzeilen sorgte (Printausgabe vom 18.4.2018): Die türkis-blaue Regierung plane fünf Träger: AUVA (vier Landesstellen), ÖGK (neun Landesstellen, bisherige GKKs), PVA, VAÖBEB (Eisenbahner & Beamte) und SVS (Selbstständige & Bauern).
Politische Farbenspiele
Pikant: Laut diesem Geheimpapier soll die bisherige Mehrheit der Arbeitnehmer, die mit Arbeitgebern die SV-Träger selbst verwalten, fallen: Künftig sollen beide Gruppen gleich vertreten sein, was realpolitisch aus roten Kassen schwarze (türkise) machen würde. Zudem soll die Entscheidungsgewalt von Vorstandsgremien in Richtung Generaldirektoren verschoben werden. De facto verwaltet dann der Staat die Kassen, nicht mehr die Sozialpartner. Gibt es in Deutschland eine Selbstverwaltung? „Ja“, sagt Platzer, allerdings sind die Vorstandsgremien mit Arbeitnehmern und -gebern paritätisch besetzt, was auch „immer wieder zu Diskussionen“ geführt habe. Für Oberösterreichs Hausärzte dürfte die Fusion übrigens kein Vorteil sein: Trotz Limitierungen – die OÖGKK zahlt z.B. nur in je 5 % der Fälle Verbandswechsel und Nahtentfernungen – hatte der oberösterreichische Allgemeinmediziner (§2-Kassen) laut Hauptverbands-Ärztekostenstatistik 2016 mit 57,44 Euro bundesweit den höchsten Honorarumsatz pro Fall, der Österreich-Schnitt liegt bei 52,42 Euro.