11. Jän. 2023Die Gesichter Seltener Erkrankungen – Teil 18

„Jedes Kind hat die Chance, sich zu entwickeln“

Kinder mit Phelan-McDermid-Syndrom wie der achtjährige Toni haben ganz unterschiedliche Beeinträchtigungen – von Schlafstörungen über motorische Defizite bis zu autistischem Verhalten oder verzögerter Sprachentwicklung. Durch gezielte Therapien und Förderung können sie viel lernen, doch die Wartzeiten dafür sind lang und die bürokratischen Hürden hoch.

Familie Stiefsohn.1
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Von Geburt an litt der Sohn von Mag. Dominique Stiefsohn an massiven Schlafstörungen: „Schon als Säugling hat er maximal 1,5 Stunden am Stück und kaum mehr als zehn Stunden innerhalb von 24 Stunden geschlafen. Immer wieder ist er schreiend aufgewacht“, berichtet die niederösterreichische Juristin, die bis zu Tonis Geburt als Journalistin tätig war. Auf der Suche nach medizinischer Hilfe erhielt die zunehmend erschöpfte Familie zunächst Beratungen im Hinblick auf eine mögliche Bindungsstörung oder Tipps zu Schlafritualen. „In unserer Not haben wir wirklich alles versucht: Ich habe selbst eine Psychotherapie probiert oder komplementärmedizinische Methoden angewandt, obwohl wir davon nicht sehr überzeugt sind.“

Auffallend waren bei dem Buben jedoch schon im Kleinkindalter sein Blick- oder Spielverhalten sowie ein torkeliges Gangbild infolge seiner Muskelschwäche. „Rückblickend wäre es durchaus möglich gewesen, bereits früher an das Phelan-McDermid-Syndrom zu denken, hätte man das Puzzle zusammengesetzt“, sagt Stiefsohn.

Dr. Sarah Jesse
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PD Dr. Sarah Jesse

Bei einer genetischen Untersuchung am Wiener AKH wurde bei dem damals bereits Dreijährigen die Diagnose Phelan-McDermid-Syndrom (PMD) gestellt. „Der Befund war für uns damals völlig unverständlich und wir erhielten keinerlei Informationen über Behandlungsoptionen.“ Mit dem Hinweis auf die im gesamten deutschsprachigen Raum aktive Phelan-McDermid-Gesellschaft war jedoch der erste wichtige Schritt getan. Der zweite entscheidende war der Kontakt zur der von PD Dr. Sarah Jesse an der Univ.-Klinik für Neurologie in Ulm geleiteten Spezialsprechstunde.

Enorme Bandbreite an Symptomen

„Mein Credo lautet ,Sag niemals nie‘. Bei Kindern mit Phelan-McDermid-Syndrom ist die Bandbreite sehr groß und jedes Kind hat die Chance, sich zu entwickeln“, betont Jesse. Etwa 130 Kinder mit der Diagnose PMD und ihre Familien kennt die Neurologin mittlerweile. Dank der Genetik werde die Diagnose inzwischen früher gestellt, es gebe aber durchaus Patient:innen, die erst im späten Erwachsenenalter die Diagnose bekommen haben. Wie gut sich die Kinder entwickeln können, demonstriert der auf der Website der PMD-Gesellschaft abrufbare „Mutmachfilm“ (https://www.22q13.info/mutmachfilm/).

Dass sie bald einen Termin an der Uniklinik Ulm erhielten und ihr Sohn zur Abklärung aufgenommen wurde, war der erste „Lichtblick“ für Familie Stiefsohn. „Wir haben sofort gemerkt, wie viel Expertise hier für Kinder mit PMD vorhanden ist, und erhielten neben medizinischen Informationen ganz praktische Tipps, etwa zum Sauberwerden.“

Während für deutsche Patient:innen die dortige Sozialversicherung für die Krankenhauskosten aufkommt, übernahm für die österreichische Familie ihre Zusatzversicherung weitgehend die Behandlungskosten. Stiefsohn spricht damit offen über finanzielle Belastungen, die Familien mit mehrfach beeinträchtigten Kindern erwarten: Sie selbst hat – so wie häufig die Mütter – ihre Berufstätigkeit stark reduziert, da die Betreuung ihres Sohnes 24 Stunden in Anspruch nimmt. „Leider bekommen wir pflegenden Eltern in Niederösterreich im Alltag keine professionelle Entlastung wie in anderen Bundesländern.  Zudem gibt es lange Wartezeiten auf Therapieplätze und die Ansuchen sind immer wieder kräfteraubend.“ Auch psychologische Unterstützung hätte die Familie nach der Diagnose gebraucht.

Therapieplan für die globale Förderung

„Lange Wartezeiten auf Therapien gibt es leider ebenso bei uns in Deutschland. Psychologische Unterstützung ist empfehlenswert, der Zugang dazu ist regional unterschiedlich und auch hier an der Klinik haben wir leider kein entsprechendes Angebot“, berichtet Jesse. Allerdings erhalten die Familien einen auf die individuellen Bedürfnisse des Kindes zugeschnittenen Therapieplan etwa im Hinblick auf Sprachentwicklung oder motorische Fähigkeiten: „Ziel ist eine globale Förderung, damit die Kinder so viel Selbstständigkeit wie möglich erreichen, sie aber nicht überfordert werden“, betont Jesse.

Ergänzend zur medizinischen Beratung durch die Spezialsprechstunde bietet die PMD-Gesellschaft, ein Selbsthilfeverein betroffener Familien, Informationen für den Umgang mit dem Syndrom an und ermöglicht den Austausch mit anderen PMD-Familien. Hilfreich sind zudem Beratungsgespräche für betroffene Familien, auch zum Umgang mit Schuldgefühlen oder Zukunftsängsten. Stiefsohn selbst engagiert sich mittlerweile ehrenamtlich im Vorstand der Gesellschaft und hat die Broschüre „Leben mit PMD“ erstellt.

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Familie Stiefsohn

„Wir wollen das Syndrom bekannter machen, damit künftig betroffene Kinder und ihre Familien früher zur Diagnose kommen können“, sagt Stiefsohn. Zudem können die Informationen ärztliche Untersuchungen oder Therapieeinstiege erleichtern.

„Plaudertasche“

Ihr Sohn – von dem es zunächst hieß, er werde nie sprechen lernen – ist mittlerweile eine Plaudertasche geworden: „Wir verstehen ihn relativ gut und er ist häufig schon in der Lage, vertrauten Personen verständlich zu machen, was er braucht.“ Er besucht im zweiten Jahr eine Sprachheilklasse einer Allgemeinen Sonderschule und bekommt eine logopädische Therapie, dank der er auch schon gut aus einem Glas trinken kann. Ein Schwimmkurs und ein inklusiver Kletterkurs helfen ebenso wie die regelmäßige Physiotherapie in der motorischen Entwicklung.

Jesse unterstreicht dabei, dass sportliche Aktivitäten wie Klettern oder Reiten aus neurologischer Sicht – „sofern sie von den muskulären Voraussetzungen her möglich sind“ –die motorische Entwicklung fördern. „Mein Wunsch an die ärztlichen Kolleginnen und Kollegen ist es, dass sie sich jedes Kind mit einer Entwicklungsverzögerung genau ansehen, bevor sie von Spätstartern sprechen“, ergänzt Jesse. Der genetischen Beratung kommt eine Schlüsselrolle zu, da sich viele Familien weitere Kinder wünschen. Da es sich bei der genetischen Ursache (siehe Fakten-Check) oft um eine Spontanmutation handelt, ist die Wahrscheinlichkeit, ein zweites Kind mit PMD zu bekommen, in diesen Fällen sehr gering. Dies kann heute mit modernen genetischen Diagnoseverfahren untersucht werden – so wie bei Familie Stiefsohn, die sich ihren zweiten Kinderwunsch erfüllen konnte.

Fakten-Check: Phelan-McDermid Syndrom

Erstmals wurde das Phelan-McDermid-Syndrom (PMD) 1984 von zwei amerikanischen Forscherinnen beschrieben und in der Folge nach ihnen benannt. Zum Symptomenkomplex gehören eine globale Entwicklungsverzögerung, Sprachentwicklungsstörungen und kognitive Einschränkungen. Weitere neuropsychiatrische Auffälligkeiten sind etwa epileptische Anfälle oder Autismus-​Spektrum-Störungen. Mögliche, aber seltene Organbeteiligungen umfassen Lymphabflussstörungen, Herz- und Nierendysplasien sowie Infektanfälligkeit.

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Dr. Michael Schön

Aufgrund der Heterogenität des Syndroms wird es genetisch definiert, erklärt Dr. Michael Schön vom Institut für Anatomie und Zellbiologie der Universität Ulm. Eine Mikrodeletion (Verlust des langen Arms des Chromosoms 22) oder eine Punktmutation im SHANK3-Gen verursachen einen Mangel an SHANK3-Protein: „Als wichtiges Struktureiweiß in den Synapsen wirkt SHANK3 stabilisierend auf Kontaktstellen im Gehirn und erhöht deren Plastizität“, erklärt der Mediziner, der an der Erforschung von PMD arbeitet und ebenfalls im Vorstand der PMD-Gesellschaft ist.

Die veränderte Funktion des SHANK3-Gens verursacht eine veränderte Signalübertragung im Nervensystem bzw. zwischen Nerven und Muskulatur. Außerdem hat SHANK3 weitere Funktionen in anderen Organen; dies erklärt, warum Gehirn, Muskulatur und andere Organe in unterschiedlichem Ausmaß involviert sein können.

Untersucht wird derzeit die Behandlung mit intranasalem Insulin. „Über die Riechschleimhaut aufgenommen wird Insulin im Liquorraum angereichert, ohne systemische Effekte auszuüben“, erläutert Schön. Eltern berichten, dass dadurch Verbesserungen im Sozialverhalten und bei kognitiven Leistungen ihrer Kinder mit PMD erreicht werden, was eine klinische Studie in den Niederlanden bereits bestätigen konnte. „Wir kennen auch den persönlichen Bericht eines Kindes mit milder Verlaufsform, das von sich selbst sagt, das Medikament lichte gleichsam den Nebel im Gehirn.“ An der Uniklinik in Ulm besteht die Möglichkeit, die Behandlung im Rahmen einer Off-label-Anwendung durchzuführen. Außerdem werden in einigen europäischen Ländern bzw. in den USA die Wirkung von Lithium oder IGF1 bei PMD untersucht.

Europäische Leitlinie

Demnächst wird eine europäische Guideline über PMD veröffentlicht, an der neben Schön auch Jesse von der Spezialsprechstunde PMD und Stiefsohn als Elternvertreterin mitgearbeitet haben. „Ausgangspunkt der Leitlinie war eine Elternbefragung nach den dringendsten Problemen. Basierend darauf haben wir die einzelnen Kapitel definiert, etwa Verhaltens- oder gastrointestinale Störungen“, berichtet Schön. Aktuell sind weltweit mehr als 3.000 Patienten mit PMD bekannt, laut Jesse dürfte die Häufigkeit in Europa jedoch mindestens 1:30.000 betragen.

www.22q13.info
Instagram: @22q13.info

Kontakt für Anfragen: PD Dr. Sarah Jesse, Univ.-Klinik für Neurologie, Ulm, Interdisziplinäre Spezialsprechstunde für Betroffene mit Phelan-McDermid-​Syndrom
sarah.jesse@uni-​ulm.de
Dr. Michael Schön, Institut für Anatomie und Zellbiologie, Universität Ulm
michael.schoen@uni-ulm.de

Serie: Die Gesichter Seltener Erkrankungen

Seltene Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und bestmöglich zu behandeln bzw. zu managen gehört zu den größten Herausforderungen der Medizin im dritten Jahrtausend. Mitunter sind es vielleicht nur zehn, zwölf Menschen in Österreich mit derselben Diagnose, die oft erst nach jahrelangen Wegen durch Ordinationen und Ambulanzen wissen, woran sie tatsächlich leiden. Die Diagnose erhielten sie meist von engagierten Ärztinnen und Ärzten, die auf den richtigen Pfad kamen und sich um Therapie und Management bemühen.

In der medonline-Serie in Kooperation mit dem Referat für Seltene Erkrankungen der Ärztekammer Wien wollen wir die Gesichter Seltener Erkrankungen vorstellen mit dem Ziel, das Bewusstsein dafür zu stärken: Seltene Erkrankungen sind zwar selten, aber es gibt sie! Mitunter sind sie aber viel zu wenig bekannt. Wir stellen Ihnen daher engagierte Ärztinnen und Ärzte und ihre Patientinnen und Patienten bzw. deren Eltern vor. Ihre Erfahrungen sollen dazu beitragen, Seltene Krankheiten besser bekannt zu machen und vielleicht rascher zur richtigen Diagnose und zur bestmöglichen Behandlung zu kommen.

Mag. Christina Lechner (Koordinierende Redakteurin) und Mag. Simone Peter-Ivkic (CR medonline.at) mit Dr. Christoph Buchta (Ärztekammer Wien/Referat für Seltene Erkrankungen)

In Kooperation mit der Ärztekammer Wien
Referat für Seltene Erkrankungen