28. Feb. 2023Interview

PRO RARE AUSTRIA: „Unsere Vision ist ein Leben mitten in der Gesellschaft“

Anlässlich des Tages der seltenen Erkrankungen haben wir ein Gespräch mit der Obfrau von Pro Rare Austria, Ulrike Holzer, geführt. Sie zeigt Schwierigkeiten auf, die Patient:innen mit seltenen Erkrankungen und deren Familien zu meistern haben, erklärt, warum der Blick auf den Menschen im Ganzen so wichtig für eine Diagnose ist und wo die Politik mehr tun muss, um eine bessere Versorgung zu gewährleisten.

medonline: Frau Holzer, seltene Erkrankungen haben viele Gesichter. Über 6000 sind bisher bekannt. In der Fülle an Krankheiten, die niedergelassene (Fach-)Ärzt:innen täglich sehen, ist es vielleicht manchmal schwierig, eine seltene Erkrankung zu erkennen. So vergehen oftmals viele Jahre, bis Patient:innen ihre Diagnose bekommen. Wie kann man bei den Ärzt:innen das Bewusstsein schärfen?

Pro Rare Austria

Ulrike Holzer, Obfrau PRO RARE Austria

Ulrike Holzer: Es wäre ein Wunsch von unserer Seite, schon bei der Ausbildung anzusetzen. Wenn seltene Erkrankungen nur als Randthema angeschnitten werden und es keine verpflichtenden Lehrinhalte dazu gibt, ist das zu wenig.

Angehenden Ärzt:innen sollte früh vermittelt werden, den ganzen Menschen zu betrachten. Nur wenn man den gesamtheitlichen Blick behält – auch, wenn man später Facharzt/-ärztin mit einer Spezialisierung wird – kann man seltene Erkrankungen erkennen. Die Besonderheit dieser Krankheiten ist es, dass sie oft viele Symptome aufweisen, die den ganzen Körper betreffen können.

Ich kann aus meiner Erfahrung sprechen, da ich in der Familie Fälle der ektodermalen Dysplasie habe. Hierbei sind kaum oder gar keine Schweißdrüsen angelegt, die Betroffenen haben zu wenig oder auch deformierte Zähne, leiden unter Hautproblemen, aber auch Augen und Lunge können betroffen sein. Die Erkrankung manifestiert sich also in einer ganzen Palette von Symptomen.

In diesem Sinne wäre es wichtig, in der Ärzt:innenschaft das Bewusstsein in Richtung seltene Erkrankung zu schärfen. Ganz nach dem Motto „Wenn du Hufgetrappel hörst, könnten es auch Zebras sein.“

Gibt es denn Red Flags, bei denen Ärzt:innen hellhörig werden sollten?

Ein Anzeichen ist, wie in meinem Beispiel, das Zusammentreffen vieler Symptome in verschiedenen Teilen des Körpers. Das könnte schon früh die Alarmglocken läuten lassen. Ein anderes Beispiel sind Café-au-lait-Flecken bei Kindern. Entdeckt ein/e Kinderarzt/-ärztin mehr als fünf davon am Körper eines Kindes, muss genauer hingeschaut werden.

Natürlich kann kein Arzt und keine Ärztin alle 6.000 Erkrankungen kennen. Es geht mehr um die Hellhörigkeit, also einfach die Awareness dafür, dass eine seltene Erkrankung hinter den Symptomen stecken könnte.

Wenn Ärzt:innen nun den Verdacht haben, dass eine seltene Erkrankung vorliegen könnte – wohin können sie ihre Patient:innen überweisen?

Wir haben in Österreich 49 Expertisezentren: 40 davon assoziierte und neun designierte Zentren. Diese sind auf der Gesundheit.gv.at-Seite zu finden und dort nach Fachgebieten geordnet. Dorthin sollte für die Diagnose überwiesen werden. Die Therapie kann dann oft wieder der/die behandelnde Arzt/Ärztin übernehmen.

Derzeit wird u.a. an Gentherapien für die Behandlung seltener Erkrankungen geforscht. Wie ist denn der aktuelle Stand in Österreich und wie gut ist der Zugang zu diesen Medikamenten?

Besteht die Möglichkeit, in eine klinische Versuchsreihe aufgenommen zu werden, sind die Chancen, diese modernen Behandlungsmöglichkeiten zu erhalten, gut. Es gibt gesetzliche Unterschiede, die bei Gentherapien zu beachten sind. Da gibt es jene, die – grob ausgedrückt – etwas reparieren. Wird ein Protein ersetzt, greift das ja nicht in die Genetik des Menschen grundsätzlich ein. Das heißt, bei dem einen Menschen, der damit behandelt wird, können sich die Symptome wesentlich verbessern oder sogar ausgeschaltet werden. Aber die Erkrankung kann an Nachkommen weitergegeben werden.

Therapien, die nachhaltig ins Erbmaterial eingreifen, sind gerade in Österreich und Deutschland sehr umstritten. Es gibt viele ethische Fragestellungen und man muss tatsächlich vorsichtig sein.

Für die ektodermale Dysplasie beispielsweise gibt es eine sehr moderne Therapie, bei der erstmals weltweit die Krankheitsursache schon im Mutterleib behandelt wurde. Hierzu wird ein rekombinantes Protein (EDA1), das bei der Erkrankten fehlt, in der Schwangerschaft zu bestimmten Zeitpunkten dreimal ins Fruchtwasser injiziert. Der Fötus nimmt dieses – da er öfter Fruchtwasser schluckt – auf und das Medikament gelangt über die Darmwand ins Blut und so an die Wirkorte. Der Fötus entwickelt dann Schweißdrüsen und zusätzliche Zahnanlagen, obwohl er ursprünglich die Krankheit vererbt bekommen hat.

Das ist ein gutes Beispiel für Forschung, die in die richtige Richtung geht. Aber es gibt noch viel zu tun.

Welche Schritte können Politik und Sozialversicherungen konkret setzen, um die Situation von Menschen mit seltenen Erkrankungen zu verbessern?

Im Vordergrund steht der verkürzte Weg zur Diagnose. Ein wichtiger Schritt ist das Neugeborenenscreening. Auch wenn wir hier in Österreich wirklich gut aufgestellt sind, versuchen wir, dass noch mehr Erkrankungen aufgenommen werden. In der Frühdiagnostik könnte sich noch einiges verbessern. Dazu möchten wir mit den Ärzt:innen und Hebammen kooperieren, die am Anfang des Lebens eines Kindes stehen. Für sie möchten wir eine Art Liste erarbeiten, auf der Frühsymptome zu finden sind. Es geht wieder darum, die Awareness zu schaffen, dass Symptome, die vielleicht merkwürdig scheinen, abgeklärt werden.

Mit der Diagnose enden die Probleme natürlich nicht. Es geht dann um Pflegegeld oder Plätze in integrativen Kindergärten und Schulen, um Kindern die gleiche schulische Ausbildung zu ermöglichen wie ihren Altersgenossen. Und es geht auch um die Erstattung von Medikamenten und Heilbehelfen sowie begleitende Therapien. Um hier diese Gleichstellung zu gewährleisten, ist wieder die Politik gefragt.

Es gibt den Nationalen Aktionsplan für seltene Erkrankungen, der 2015 publiziert wurde. Was wurde denn seither unternommen?

Ein schwieriges Thema... Es hat sich herausgestellt, dass dieser Plan (anders als in anderen Ländern wie z.B. Frankreich, das schon den dritten Plan publiziert hat und laufend Dinge abarbeitet) in Österreich eher eine Strategie ist. Leider geht die Arbeit sehr schleppend voran. Immerhin wurde 2021 eine Priorisierung durchgeführt und 15 Maßnahmen wurden als besonders dringlich identifiziert. Besonderes Augenmerk wird auf Menschen gelegt, die noch keine Diagnose haben, weil ihre Erkrankung vielleicht so selten ist, dass sie in Österreich nicht bekannt ist.

Allerdings ist die Situation für mich sehr unbefriedigend. Die Finanzierung für die Umsetzung der Maßnahmen ist nicht gesichert und es gibt schlichtweg keine Personalressourcen. Wenn wir uns beschweren, werden wir immer wieder vertröstet. Natürlich verstehen wir, dass es viele andere Baustellen gibt. Aber wir würden uns wünschen, dass man zumindest mehr kleine Schritte geht, diese dafür kontinuierlich.

Das ist natürlich eine politische Frage und jetzt, wo der Finanzausgleich verhandelt wird, gibt es wieder sehr beunruhigende Signale. Das föderale System ist unserem Gesundheitssystem leider nicht sehr zuträglich.

Sie sprechen hier die Finanzierung der Versorgung aus verschiedenen Töpfen an?

Genau. Das Problem in Bezug auf Patient:innen mit einer seltenen Erkrankung ist, dass sie hin- und hergeschoben werden. Wir würden uns wünschen, dass es österreichweit eine geregelte Erstattung von Therapien gibt. Es kann doch nicht sein, dass ein:e Patient:in in einem Bundesland eine Behandlung bezahlt bekommt, die in einem anderen nicht erstattet wird. In so einem kleinen Land wie Österreich ist das absurd, hier zu unterscheiden. Auch die Kostenfrage, ob eine Therapie intramural oder im niedergelassenen Bereich erfolgt darf nicht auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen werden. Diese Therapien müssen aus Sonderfinanzierungstöpfen beglichen werden.

Familien, in denen Kinder mit seltenen Erkrankungen leben, sind ohnehin oft sehr belastet. Ihnen auch noch Steine in den Weg zu legen, erzeugt zusätzliche psychische Probleme. Frauen sind hier oft besonders betroffen, weil zur psychischen auch die physische Belastung durch die vielen Arztwege hinzukommt. Viele Mütter begegnen uns in wirklich erschöpftem Zustand.

Inwieweit sind hier Selbsthilfegruppen eine Unterstützung?

Sie spielen eine sehr große Rolle. Es ist eine wirkliche seelische Erleichterung, mit Gleichgesinnten zu sprechen und einfach zu merken, dass man nicht alleine ist, sondern es auch andere gibt, die mit den gleichen Problemen kämpfen. Natürlich geht es auch darum, Erfahrungen auszutauschen, wie man Situationen mit den eigenen Kindern meistern kann und Hinweise zu geben, wie man gut durch den Dschungel des Gesundheits- und Sozialsystems kommt. Selbsthilfegruppen sind ein unschätzbares Feature, um mit der Erkrankung zu Rande zu kommen.

Außerdem haben sie, genauso wie wir als Dachverband, die Aufgabe, Bedürfnisse und Forderungen Betroffener an die Politik weiterzugeben und darum zu kämpfen, den zukünftigen Weg mitgestalten zu können.

Wie sieht denn der zukünftige Weg für Pro Rare Austria aus?

Zuerst einmal fordern wir, dass der Status seltener Erkrankungen rechtlich anerkannt wird und das auch verankert wird. Derzeit muss man immer wieder darum kämpfen, dass anerkannt wird, dass man eine Erkrankung hat. Hier spielen auch die Expertisezentren eine Rolle. Wird dort eine Diagnose gestellt, sollte diese von jedem Gesundheitsdienstleister und auch von den Behörden usw. wirklich als gegeben anerkannt werden.

Ein weiteres Ziel ist, dass diese Expertisezentren nachhaltig im österreichischen Gesundheitssystem verankert und finanziert werden. Ärzt:innen sollte ihr Aufwand, der bei der Betreuung von Menschen mit seltenen Erkrankungen zeitlich oft sehr groß ist, auch abgegolten werden. Der verkürzte Weg zur Diagnose sowie die Versorgung sind ebenfalls Zukunftsthemen.

Außerdem soll der Forschungsstandort in Österreich gestärkt werden, um noch mehr Patient:innen den Zugang zu Therapien zu ermöglichen. Derzeit gibt es nur für sechs Prozent aller seltenen Erkrankungen eine Therapie. Das heißt gleichzeitig, dass 94 Prozent ohne Therapie leben müssen und lediglich ihre Symptome mildern können!

Da wir als Dachverband viele Aufgaben übernehmen, würden wir uns weiters wünschen, dass diese Arbeit auch vom Staat anerkannt und finanziert wird. Derzeit sind wir rein auf das Sponsoring der Industrie und öffentliche Projektförderungen, die ohne Folgefinanzierung auslaufen angewiesen.

Wir möchten uns voll und ganz dafür einsetzen können, Gleichstellung für Menschen mit seltenen Erkrankungen zu erreichen. Es geht nicht um Gleichbehandlung, sondern darum, ein gutes Leben in der Mitte der Gesellschaft führen zu können – und dazu braucht es manchmal eben etwas mehr Unterstützung.

Hätten Sie noch eine Abschlussbotschaft an unsere Leser:innen?

Wie ich zu Anfang schon gesagt habe: es geht darum, den Menschen als Ganzes zu begreifen. Wenn sich eine seltene Erkrankung manifestiert, reicht der fachspezifische Tunnelblick einfach oft nicht. Hier über die Grenzen zu sehen, könnte sicher zu viel mehr Diagnosen führen und Leid ersparen.

Danke für das Gespräch!