23. Feb. 2021 Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN)

Nicht jeder Schlaganfallpatient mit Krampfanfall benötigt Antikonvulsiva

Nach einem ischämischen Schlaganfall erleidet einer von zehn bis 15 Patienten mindestens einen Krampfanfall. Lässt sich diese Komplikation verhindern? Und wer braucht welche Therapie, wenn es doch zum Anfall gekommen ist?

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istock.com/Yuliya Baranych

Hinter einem ersten Krampfanfall steckt in etwa zehn Prozent der Fälle eine zerebrale Ischämie oder Blutung. Die iktale Gefahr steigt mit dem Alter, ischämische Schlaganfälle scheinen sie weniger stark zu erhöhen (knapp fünf Prozent) als hämorrhagisch transformierte (12,5 Prozent) oder primär hämorrhagische (rund 16 Prozent), berichtete Professor Dr. Martin Holtkamp, Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge und Charité – Universitätsmedizin Berlin.

Zwei Anfallsformen, differentes Rezidivrisiko

Für die Risikoabwägung und Therapieindikation sei es wichtig, zwischen zwei Anfallsformen zu unterscheiden:

  • akut-symptomatische Anfälle, die innerhalb der ersten sieben Tage, meist in den ersten 24 Stunden auftreten, und
  • unprovozierte Anfälle, die sich zu einem späteren Zeitpunkt manifestieren.

Das Rezidivrisiko fällt bei beiden höchst unterschiedlich aus, erinnerte der Kollege. Nach akut-symptomatischen Anfällen beträgt es etwa 30 Prozent in zehn Jahren, nach unprovozierten Anfällen 70 bis 75 Prozent. Der Grund liegt in der unterschiedlichen Pathophysiologie. In der Akutphase induzieren passagere exzitotoxische und inflammatorische Prozesse den Krampfanfall. Das Risiko, dass so etwas ein zweites Mal eintritt, ist zwar nicht null, aber vergleichsweise gering.

Völlig anders sieht es aus, wenn der Patient Monate nach dem Schlaganfall den ersten Krampfanfall bekommt. Dann liegt die Ursache in der Infarktnarbe, die nicht wieder verschwinden wird. Das Zehn-Jahres-Rezidivrisiko liegt über der Schwelle von 60 Prozent, oberhalb derer gemäß der DGN-Leitlinie ein einziger Krampfanfall ausreicht, um die Epilepsiediagnose zu begründen. Als Konsequenz ergibt sich, dass ein erster Krampfanfall in der Akutphase ebenso wenig eine Therapieindikation rechtfertig wie die Hoffnung, schon den ersten Krampfanfall durch eine antiepileptische Therapie abwenden zu können – dafür ist das Risiko zu gering.

„Im klinischen Alltag läuft das aber oft anders“, berichtete Holtkamp. Bekommt ein Patient auf der Stroke Unit einen ersten Krampfanfall, wird quasi reflexartig ein Antiepileptikum angesetzt. Das wäre nicht weiter schlimm. Aber oft verlässt der Patient die Klinik in Richtung Reha mit dieser Medikation, wo sie dann weiter verordnet wird, weil niemand weiß, warum sie begonnen wurde. So kommt es, dass Patienten jahrelang mit dem Etikett Epilepsie und der entsprechenden – nicht indizierten – Medikation herumlaufen.

„Wenn Sie einen Patienten sehen, der wegen eines Krampfanfalls in der Akutphase nach Schlaganfall ein Antikonvulsivum bekommen hat, sollten Sie es rasch absetzen“, forderte Holtkamp. Natürlich gebe es Patienten mit sehr hohem Rezidivrisiko, die sich z.B. mit dem SeLECT-Score identifizieren ließen (siehe Kasten). In diesen Fällen sei eine langfristige Sekundärprophylaxe sicher zu erwägen. Das bleibe aber eine Einzelfallentscheidung.

Bei unprovozierten Spätanfällen ist zu differenzieren. Eine antiepileptische Primärprophylaxe erscheint auch hier nicht sinnvoll, weil zehn bis 15 Patienten behandelt werden müssten, um einen vor dem Krampfanfall zu bewahren, sagte Holtkamp. Hat ein Patient aber den ersten unprovozierten Krampfanfall erlitten, werden ohne Therapie mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere folgen. Gemäß der Leitlinie ist bei dieser Konstellation – fokaler epileptischer Anfall mit epileptogener Läsion im MRT (Narbe des Schlaganfalls) – ein „geeignetes Antiepileptikum“ zu verordnen.

Da aber liegt der Hase im Pfeffer, denn die Datenlage, welche Antiepileptika geeignet sind, ist denkbar dünn. Holtkamp zitierte zwei kleine Studien: Levetiracetam versus Carbamazepin mit knapp 50 Patienten je Gruppe ohne signifikante Unterschiede und Lamotrigin versus Carbamazepin mit je 32 Patienten je Gruppe. Lamotrigin schnitt in dieser Arbeit hinsichtlich der Verträglichkeit besser ab und verpasste die Signifikanz bei der Anfallsfreiheit wohl aufgrund der kleinen Teilnehmerzahl. Laut der DGN-Leitlinie sind Lamotrigin und Levetiracetam bei fokalen Epilepsien als erste Wahl anzusehen, außerdem nennt sie einige Wirkstoffe als Alternativen.

Prädiktion & Prävention mithilfe des SeLECT-Scores

Natürlich wäre es wünschenswert, unmittelbar nach dem akuten Schlaganfall eingreifen zu können, um den Start der epileptogenen Kaskade zu unterbinden. Aber: „Sämtliche Therapiestudien zur Verhinderung der Epileptogenese nach Schlaganfall beim Menschen waren bisher erfolglos“, konstatierte Prof. Dr. Barbara Tettenborn, Klinik für Neurologie am Kantonsspital St. Gallen. Ihre Arbeitsgruppe hat 2002 ein prospektives Register aufgesetzt, um Prädiktoren für die Entwicklung „später“ Krampfanfälle (>7 Tage nach dem Schlaganfall) zu finden und das individuelle Risiko abzuschätzen.

Bis 2008 haben die Schweizer Kollegen 1.200 Patienten mit zerebraler Ischämie eingeschlossen und anhand der Krankheits- verläufe den SeLECT-Score mit folgenden einfach zu bestimmenden fünf Faktoren definiert:

  • Schwere des Schlaganfalls nach NIHSS
  • Arteriosklerose im Bereich der großen Hirnarterien
  • frühe Anfälle (≤7 Tage)
  • kortikale Beteiligung
  • Infarkt im Stromgebiet der A. cerebri media

Den stärksten Einfluss auf das Risiko haben akut-symptomatische Krampfan-fälle gefolgt von der Schwere des Schlaganfalls und der kortikalen Beteiligung – entsprechend werden sie im Score gewichtet. Insgesamt gibt es bis zu zehn Punkte, was dem höchsten Risiko entspricht (>60% im ersten Jahr, >80% in fünf Jahren). Daraus lassen sich womöglich Implikationen für das Management ableiten. Bei sehr hohem Risiko könnte eine prophylaktische antikonvulsive Therapie indiziert sein. Zurzeit arbeiten Tettenborn und ihre Kollegen daran, die Aussagekraft mit weiteren Parametern wie EEG, Imaging, Entzündungsmarkern und Genetik zu steigern.

Bei sichtbarer Läsion Medikation beibehalten

Um die Frage zu klären, wie lange die Behandlung im Einzelfall fortgeführt werden sollte, kann man ein Internet-Tool heranziehen (Link: www.epilepsypredictiontools.info/aedwithdrawal). Es kalkuliert anhand der Patientendaten das Zwei-, Fünf- und Zehn-Jahres-Rezidivrisiko nach Absetzen der antiepileptischen Therapie.

Bereits eine relativ harmlos anmutende Konstellation – Mann, 60 Jahre alt, keine besonderen Risikofaktoren, Familienanamnese bezüglich Krampfleiden leer, wenige Anfälle vor der Remission, normales EEG – ergibt ein Zwei-Jahres-Rezidivrisiko von knapp 50 Prozent, auf fünf Jahre hochgerechnet von 60 Prozent. „Angesichts dieser Zahlen würde ich den Patienten beraten, das Antiepileptikum nicht abzusetzen“, sagte Holtkamp. „Das entspricht dem Konsens: Wenn eine Läsion als Ursache einer Epilepsie sichtbar ist, setzt man die Medikation nicht mehr ab.“

93. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), 4.–7.11.20

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum neuropsy