Multiple Sklerose: Vorsicht mit Lebendimpfstoffen!

Foto: sefaozel/GettyImages

Aus verschiedenen Gründen ist es wichtig, bei MS-Patienten auf einen ausreichenden Impfschutz zu achten. Unter immunsuppressiver Therapie ist das richtige Timing von Impfungen allerdings eine große Herausforderung. (CliniCum neuropsy 1/20)

Das Thema Impfen ist aus mehreren Gründen bei Multipler Sklerose (MS) besonders essenziell: Bekannt ist, dass Infektionskrankheiten bei MS-Patienten Schübe auslösen können. Daher sollten impfpräventible Infektionskrankheiten (z.B. Influenza, Pneumokokken-Pneumonie …) möglichst vermieden werden. Ein zweiter Grund, warum bei MS unbedingt auf einen ausreichenden Impfschutz geachtet werden sollte, ist der zunehmende Einsatz hochwirksamer Therapeutika mit immunsupprimierender Wirkung. Die milderen MS-Verläufe haben zur Folge, dass die Betroffenen heute länger im Arbeitsprozess stehen, mehr reisen und einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Zugleich steigt durch die Immunsuppression aber auch das Risiko schwerer Verläufe von Infektionskrankheiten (z.B. Varizellen).

Können Impfungen MS oder Schübe auslösen?

Lange Zeit gab es die Befürchtung, dass nicht nur Infektionen, sondern auch Impfungen ein Risikofaktor für MS oder Schübe sein könnten. „Noch vor 20 Jahren wurden daher Patienten, wenn die Diagnose gesichert war, nie wieder geimpft“, berichtet Univ. Prof. Dr. Barbara Kornek, Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Wien. „Diese Impflücken machen uns zum Teil heute noch zu schaffen.“ Ein Blick in die internationalen Leitlinien zeigt, dass sich diese Sichtweise mittlerweile deutlich geändert hat. Die Datenlage ist relativ klar: Gesunde Personen haben kein erhöhtes Risiko, durch Impfungen eine MS zu bekommen! Untersucht wurde das unter anderem für die Hepatitis- B-, HPV-, Influenza-, MMR- und die DTPP-Impfung.

Etwas komplexer ist die Frage, ob eine Impfung bei schon bestehender MS das Schubrisiko erhöht. Die amerikanischen Guidelines sind bei der Beantwortung dieser Frage zurückhaltend und verweisen auf eine unzureichende Datenlage. Im Gegensatz dazu kommen französische MS-Experten in ihren Empfehlungen zu dem Schluss, dass zumindest die Influenza- und BCG-Impfung das Schubrisiko nicht erhöhen. „Es gibt allerdings eine Impfung, bei der etwas Vorsicht geboten ist“, berichtet Kornek. „Bei der Gelbfieberimpfung – einer Lebendimpfung – ergab eine kleine, aber methodisch gute Studie, dass das Risiko für einen Schub oder eine erhöhte MR-Aktivität in den Wochen nach der Impfung etwas erhöht ist.“

Schubtherapie und Impfen

Die Stufentherapie der Multiplen Sklerose basiert auf zwei Säulen: Wenn bei einem Patienten neue neurologische Symptome auftreten, wird hochdosiert Methylprednisolon verabreicht – üblicherweise 1g/d i.v. über fünf Tage. Bei Bedarf kann eine zweite Stoßtherapie mit noch höherer Dosis angeschlossen werden. „Das entspricht einer mittelgradigen Immunsuppression“, so die Expertin. „Bei Impfungen muss daher ein gewisser zeitlicher Abstand eingehalten werden.“ Totimpfstoffe sollten frühestens zwei Wochen nach Ende der Cortison-Stoßtherapie zum Einsatz kommen und bei Lebendimpfungen wird empfohlen, sogar vier Wochen abzuwarten.

Verlaufsmodifizierende Therapien

Die zweite Säule der medikamentösen MS-Behandlung sind die immunmodulierenden und immunsuppressiven Dauertherapien, deren Ziel es ist, das Auftreten von Schüben zu verhindern oder zu verringern und das Fortschreiten der Behinderungsprogression zu reduzieren. Für die IMIS-Therapien stehen derzeit 14 verschiedene Substanzen zur Verfügung, die abhängig von der Verlaufsform der MS und dem individuellen Ansprechen des Patienten eingesetzt werden können. Während immunmodulierende Substanzen wie Interferon beta und Glatiramerazetat keinen nennenswerten oder nur einen geringen Einfluss auf das Immunsystem haben (Immunsuppression Grad I), sind andere Wirkstoffe hochgradig immunsupprimierend. Zu den immunsuppressiven Therapien, die zu einer Immunsuppression Grad III führen, zählen die Behandlungen mit Natalizumab, Alemtuzumab, Ocrelizumab, Rituximab, Fingolimod, Cladribin und Teriflunomid.

Da Impfungen unter immunsuppressiver Therapie problematisch sind, gibt es zwei wichtige Empfehlungen: Bei Diagnosestellung einer MS bzw. vor Beginn einer IMIS-Therapie unbedingt einen Impfstatus erheben! Fehlen Impfungen, sollten diese noch vor der geplanten Therapie nachgeholt oder aufgefrischt werden. Die Erfahrung zeigt, dass es gerade bei jungen Erwachsenen oft beträchtliche Impflücken gibt. Kornek verweist darauf, dass eine größere Zahl benötigter Impfungen für viele Patienten auch ein finanzielles Problem darstellt. Mittlerweile gibt es aber einige Kassen, die zumindest einen Teil der Impfkosten ersetzen.

Wirksamkeit von Impfungen unter IMIS-Therapie

Wie wirksam sind Impfungen unter schon bestehender immunmodulierender Therapie? Unter Interferonen scheinen Totimpfstoffe ähnlich wirksam zu sein wie bei gesunden Kontrollpersonen. Das gilt zumindest für Influenza, Meningokokken, Pneumokokken, Diphtherie und Tetanus. Für Glatiramerazetat gibt es nur eine kleine Studie, in der sich die Influenza-Impfung ebenfalls als effektiv erwies, der Schutz aber etwas geringer war als bei Gesunden. Unter Dimethylfumarat zeigte sich in Studien eine Impfantwort, die vergleichbar war mit der unter Interfontherapie. Kornek verweist aber darauf, dass DMF bei manchen Patienten eine Lymphopenie auslösen kann. „Für die Gruppe der monoklonalen Antikörper mit immunsupprimierender Wirkung und der oralen Substanzen, die bei MS verwendet werden, kann man zusammenfassend sagen: Bei Totimpfstoffen ist die Impfantwort zwar vorhanden, die Wirksamkeit der Impfungen aber im Vergleich zu Gesunden oder unbehandelten MS- Patienten herabgesetzt.“

Bei Lebendimpfstoffen ist die Nutzen-Risiko-Abwägung dadurch erschwert, dass es kaum Daten gibt. Sie sollten, wenn es nur irgendwie möglich ist, nicht unter einer laufenden IMIS-Therapie verabreicht werden, sondern bereits vor Therapiebeginn. Da der Verlauf der Erkrankung oft nicht vorhersehbar ist, empfiehlt es sich, bei MS-Patienten Lebendimpfungen auch dann ins Auge zu fassen, wenn noch keine immunsuppressive Therapie geplant ist. Sollte eine Lebendimpfung bei einem Patienten erforderlich sein, der bereits mit Immunsuppressiva behandelt wird, muss die Medikation pausiert werden. Der notwendige Abstand zwischen Absetzen der Therapie und Impfen hängt von der Wirkungsweise und Halbwertszeit des Medikaments ab: Bei Interferonpräparaten und Glatiramerazetat muss ein Monat zugewartet werden, während bei depletierenden Antikörpern bis zur Repletion bzw. Wiederkehr der Lymphozyten zwölf Monate oder mehr vergehen können. Da die Phase der Virämie zwischen zwei und vier Wochen dauert, darf die Therapiepause erst vier bis sechs Wochen nach der Lebendimpfung beendet werden.

Empfehlungen

Eine gute Orientierung darüber, welche Impfungen notwendig sind, liefert die aktuelle Version des österreichischen Impfplans. Zusätzlich gibt es noch spezielle Impfempfehlungen für MS-Patienten in den Fachinformationen der EMA und FDA. Besonderes Augenmerk sollte darauf gelegt werden, dass eine Immunität gegen Varizellen besteht. Darüber hinaus wird bei verschiedenen Substanzen auch ein Screening auf Hepatitis C, Hepatitis B, HPV und Pneumokokken empfohlen. Wichtig ist außerdem, dass gesunde Angehörige ebenfalls geimpft werden! Um den aktuellen Wissensstand zusammenzufassen und für die Praxis aufzubereiten, arbeiten derzeit mehrere österreichische Fachgesellschaften an einem Expertenstatement „Impfen bei Multipler Sklerose“. Neben der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie sind an der Erarbeitung heimischer Empfehlungen auch das Institut für spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin der Med-Uni Wien, die Österreichischen Gesellschaft für Vakzinologie und die Österreichische Gesellschaft für Infektionskrankheiten und Tropenmedizin beteiligt.

Quelle: Kornek, B. „Impfen bei Multipler Sklerose“, Österreichischer Impftag, Wien, 18.1.20

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin CliniCum neuropsy