Adipositas hält ein Leben lang an

Weder Psychotherapie noch bariatrische OP alleine bieten eine dauerhafte Lösung, resümiert die Gesundheitspsychologin Mag. Barbara Andersen, die am ersten Adipositas-Tag im AKH Wien über Stigmatisierung und Lebensumstände adipöser Patienten sprach. (Medical Tribune 40/18) 

Adipositas ist eine multifaktorielle und chronische Erkrankung, die ein Leben lang anhält, im Kopf und im Denken bleibt der Patient adipös. Adipositas ist auch eine Erkrankung mit hoher Stigmatisierung. Gewicht und Körperform sind der erste Eindruck, den man von einer Person gewinnt. „Adipöse Menschen werden selbst dafür verantwortlich gemacht und als undiszipliniert wahrgenommen. Es herrscht die Meinung vor, dass diese einfach weniger essen und sich mehr bewegen sollten“, so die Gesundheitspsychologin und klinische Psychologin Mag. Barbara Andersen. Auch bei befragten Ärzten kann sich gut die Hälfte diesem Standpunkt anschließen. Leider ist das nicht so einfach, da der Körper, biologisch gesehen, immer das einmal bereits erreichte Höchstgewicht, den Set-Point, anstrebt und alles, was er nicht verbrennt, als Fett anlagert. Der Patient muss ständig dagegen ankämpfen, und ständig steht das Gewicht im Vordergrund. „Adipöse Menschen versuchen nicht an Essen zu denken und tun es dennoch den ganzen Tag. Es ist ein bisschen, wie wenn jemand sagt: Denken Sie nicht an einen rosa Elefanten – und sofort hat man einen solchen vor Augen“, erklärt Andersen. Gewichtszunahmen werden stark mit Scham und Scheitern verbunden, und es kann sowohl bei Behandlern als auch den Behandelten leicht zu einer Überforderung kommen.

Rebound-Effekt

Bei einer konservativen Therapie der Adipositas nehmen die Patienten am Anfang sehr gut ab und haben beeindruckende Halbjahres- oder Jahresergebnisse. Danach kommt es aber zu einem Rebound-Effekt und ein paar Jahre später ist das Ausgangsgewicht wieder erreicht oder sogar überschritten. „Das beste Beispiel dafür ist die amerikanische Reality-Show ‚The Biggest Loser‘. Dort werden die Teilnehmer über einen bestimmten Zeitraum optimal betreut und verlieren deutlich an Gewicht, aber danach nehmen sie alle wieder zu“, ergänzt Univ.-Doz. Dr. Gerhard Prager, Leiter der Adipositas- Ambulanz im AKH Wien. „Es gibt keine konservative Therapie, die langfristig funktioniert, wenn es sich um Gewichtsreduktionen von 20 Kilogramm oder mehr handelt. Eine bariatrische Operation ist eine sehr effektive Behandlung, die zu selten gemacht wird, aber auch nur die Spitze des Eisbergs abdecken und das weltweite Adipositas- Problem nicht lösen kann.“

Traumatisierungen

Es gibt Persönlichkeitsfaktoren wie eine gute innere Struktur, Gewissenhaftigkeit und die Fähigkeit vorauszuplanen, die helfen, das eigene Körpergewicht dauerhaft zu reduzieren, aber das schaffen nur drei bis fünf Prozent der Betroffenen. „Umgekehrt gibt es keine adipöse Persönlichkeit“, betont Andersen. „Adipöse unterscheiden sich per se nicht von normalgewichtigen Menschen, allerdings haben sie viele psychische Komorbiditäten.“ Oft tritt die psychische Erkrankung als Begleitfaktor auf, weil die Leute sich schämen und Sozialkontakte meiden und sich zurückziehen. Angststörungen, Depressionen, geringer Selbstwert und Impulskontrollprobleme sind häufig. Mehr als die Hälfte der Betroffenen weisen in ihrer Vergangenheit Traumatisierungen auf, die oft schon vor dem 15. Lebensjahr stattgefunden haben. Essen reguliert die Emotionen, und Körpermasse als Panzer kann vor zu vielen Emotionen schützen. Nach einer bariatrischen Operation kann der Patient nur noch sehr wenig essen, er wird „dünnhäutiger“, hat Essen als Emotionsregulation verloren und kann Depressionen entwickeln. „Im ersten Jahr nach einer solchen Operation tut sich auf hormoneller und physiologischer Ebene unglaublich viel“, erzählt Andersen. „Der gesamte Körper ist eine große Baustelle.“

Honeymoon-Phase

Trotzdem erfolgt mit der Gewichtsabnahme ein unglaublicher Lebensgewinn, es beginnt eine „Honeymoon-Phase“, die in etwa die ersten zwei Jahre anhält. „Man fügt sich neu in sich selbst, die Gewichtsabnahme und das neue Aussehen sind wunderbar. Danach lässt dieser Effekt langsam nach, und es wird normal, nicht mehr übergewichtig zu sein.“ Partnerbeziehungen verändern sich, es kommt auch häufiger zu Trennungen. Die soziale und die berufliche Integration verbessern sich, ebenso psychische Komorbiditäten. Aber langfristig, wenn der Patient wieder mehr essen kann, kann es durchaus zu einer erneuten Gewichtszunahme kommen, und auch frühere psychische Erkrankungen stellen sich wieder ein. Die Suizidrate nach bariatrischer OP ist vor allem bei adipösen Männern im Vergleich zur Normalbevölkerung deutlich höher. „Weder die bariatrische Operation noch die Psychotherapie alleine bieten dauerhafte Lösungen“, betont Andersen. „Wenn jemand Essen als Bewältigungsstrategie einsetzt, um sich gut zu fühlen, ist es wichtig herauszufinden, was er sonst noch tun kann, um glücklich zu sein und Spaß zu haben. Das kann sehr individuell sein und bedarf einer umfangreichen Nachbetreuung. Veränderungen sind langfristig nur erfolgreich, wenn sie in ganz kleinen Einheiten stattfinden.“

Europäischer Adipositas-Tag, AKH Wien, Mai 2018

Mundflora verrät Adipositasrisiko

Eine starke Gewichtszunahme in den ersten beiden Lebensjahren geht mit einer Veränderung der Mundflora einher. Dies ergeht aus einer Studie der Penn State University in Pennsylvania, bei der 226 Kindern in den ersten zwei Lebensjahren siebenmal Abstriche aus dem Mund und Stuhlproben entnommen und analysiert wurden. Ergebnis: Bei den Kindern, die in den ersten zwei Jahren stark zugenommen hatten, war die Diversität des Mikrobioms vermindert und zugunsten von Firmicutes verschoben, während Bacteroidetes seltener waren. Im Mund waren diese Veränderungen bei den Kindern früher feststellbar als im Darm. Auch bei Erwachsenen sind diese Veränderungen des Mikrobioms in Stuhlproben mit Adipositas assoziiert.
RED

Craig et al., Sci Rep. 2018; doi: 10.1038/s41598-018-31866-9

Selbsthilfegruppe

Die Selbsthilfegruppe im AKH Wien für Adipositas-Betroffene, Angehörige und Interessierte trifft sich einmal Monat dienstags ab 18 Uhr zum Erfahrungsaustausch und für gemeinsame Freizeitaktivitäten.
Nähere Informationen unter: http://www.shgwien.info/

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune