Wie Masern die Erinnerung des Immunsystems löschen

Masernviren, Abbildung zeigt die Struktur des Masernvirus mit Oberflächenglykoproteinspitzen
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Zwei neue Studien helfen zu verstehen, wie eine Maserninfektion das Immunsystem noch lange nach einer Masernerkrankung lahmlegt.

Nach einer Masernerkrankung ist es so, als wäre die „Reset“-Taste im Immunsystem gedrückt. Zwei bis drei Jahre nach dem Abheilen der Infektion ist die Inzidenz und Mortalität für opportunistische Infektionskrankheiten so stark erhöht, dass mehr als die Hälfte der Todesfälle durch Infektionskrankheiten bei Kindern auf das Konto überstandener Maserninfektionen gehen.1,2

Während die Maserninfektion die Immunität gegen Viren und Bakterien für längere Zeit außer Gefecht setzt, baut sich paradoxerweise gleichzeitig eine starke Immunität gegen das Masernvirus auf, die meist lebenslänglich gegen künftige Infektionen mit dem Virus schützt. Wie das funktioniert, ist ein bedeutendes Rätsel der Immunologie.

Immun-Amnesie durch Masern

Bekannt ist, dass das Virus in den ersten Tagen der Infektion Lymphozyten direkt infiziert und eine besondere Präferenz für Memory-B-Zellen hat (die langlebigen Zellen, die nach einer Impfung oder durchgemachten Erkrankung für eine schnelle Antikörperproduktion sorgen).3,4,5 Nach einer akuten Masernerkrankung fallen dadurch die Gesamtzahlen der Lymphozyten ab, erholen sich allerdings nach etwa vier Wochen wieder.6 Aber selbst danach bleibt ein Teil der Immunität verloren, was als „Immun-Amnesie“ bezeichnet wird.3 Der Grund dafür war bis dato unbekannt. Nun sind zwei Studien erschienen, die einige Erklärungen dafür liefern.1,7

Beide Studien untersuchten dieselbe Kohorte holländischer Kinder. Diese besuchten protestantisch-orthodoxe Schulen, an denen viele Familien Impfungen verweigern. Im Zuge eines Masern-Outbreaks steckten sich in der untersuchten Gruppe 77 ungeimpfte Kinder zwischen vier und 17 Jahren an – von ihnen analysierten die Forscher das Blut vor sowie etwa 40 Tage nach dem Abheilen der Masernerkrankung. Die beiden Arbeiten konnten zeigen, dass eine Maserninfektion nicht nur den Pool der naiven B-Zellen im Knochenmark durcheinanderbringt, sondern auch Memory-B-Zellen auslöscht, die gegen bereits durchgemachte oder geimpfte Erreger gerichtet sind. Im Tierversuch konnten die Forscher außerdem zeigen, dass nach den Masern die Immunität gegen bekannte Erreger, beispielsweise durch eine Grippeimpfung, nicht mehr so ausgeprägt ist wie davor (genaue Studienbeschreibung: siehe Kasten unten).1,7

„Nach den Masern Kindheitsimpfungen wiederholen“

Vor der Einführung der Masernimpfung litt jedes Kind einmal an der Maserninfektion. Dank der Impfung konnten die Masernfälle zwischen den Jahren 2000 und 2017 um 80 Prozent reduziert werden, was geschätzten 21,1 Millionen Menschen das Leben rettete. Allein die reduzierte Impfhäufigkeit der letzten Jahre hat zu einem 300-prozentigen Anstieg der weltweiten Maserninfektionen seit 2018 geführt.8 Aufgrund einer Kombination „erfolgreicher“ Impfgegner-Kampagnen vergangener Jahre, ungeimpfter Kommunen und einem nach wie vor limitierten Zugang zu Impfungen befallen die Masern weiterhin jährlich weltweit mehr als sieben Millionen Menschen, davon sterben mehr als 100.000.8,9,10

„Eine gute Durchimpfung mit der Masern-Vakzine würde nicht nur helfen, die vielen Toten zu vermeiden, die jedes Jahr direkt auf das Konto der Masern gehen, sondern auch noch die Immun-Amnesie vermeiden, die potenziell weiteren hunderttausenden Menschen pro Jahr das Leben kostet“, betonen die Autoren einer der beiden Studien und weisen auf den Zusatznutzen für das Gesundheitswesen durch die Vermeidung zusätzlicher Infektionskrankheiten hin.1 In einem begleitenden Interview rät Studienleiter Dr. Michael J. Mina, PhD, Harvard School of Public Health, Patienten nach einer durchgemachten Maserninfektion erneut gegen Kindheitsinfektionen zu immunisieren, um dem verloren gegangenen Antikörper-Pool wieder auf die Sprünge zu helfen.

Mechanismen der Immun-Amnesie

Die beiden Studien erschienen Anfang Oktober in den Magazinen Science und Science Immunology.

„Sinnvolle“ Antikörper gehen verloren

In der Science-Studie1 verwendete eine Forschungsgruppe von der Harvard School of Public Health ein spezielles Tool, das Antikörper gegen tausende virale und mikrobielle Antigene im Blut detektieren kann (VirScan). So entdeckte sie, dass eine Maserninfektion zwischen 11 und 73 Prozent des Antikörper-Repertoires der untersuchten Kinder auslöschte, was zu einem Abfall der Antikörpertiter gegen diverse infektiöse Erreger führte. Als Vergleich sahen sie sich Kleinkinder vor und nach ihrer ersten Masern-Mumps-Röteln-Impfung an: Bei ihnen fand im selben Zeitraum keinerlei Antikörperdepletion statt. Makaken, die die Forscher mit Masern infizierten, verloren ebenfalls 60 Prozent ihrer Antikörper, die fünf Monate nach der Infektion noch nicht wiederhergestellt waren.

Einige der erkrankten Kinder hatten zum Zeitpunkt der zweiten Untersuchung wieder Antikörpertiter gegen einige Infektionskrankheiten. Dabei handelte es sich allerdings hauptsächlich um hochansteckende Erreger wie Adenovirus C oder Influenza A, und die Forscher sahen, dass Kinder mit vorhandenen Antikörpern entweder in derselben Region wohnten oder dieselbe Schule besuchten. Sie mutmaßten daher, dass ein Wiederaufbau von Antikörpern zwar möglich ist, aber einer erneuten Exposition mit dem Pathogen bedurfte. Eine solche dauere nicht nur Monate oder Jahre, sondern könne auch beträchtliche Gesundheitsrisiken nach sich ziehen – eine Mittelohrentzündung ist immerhin ein hoher Preis für eine Wiederherstellung der Pneumokokken-Antikörper.

B-Zell-Rezeptor-Repertoire gestört

In der Science Immunology-Studie gelang es, die Mechanismen des B-Zell-Verlusts zu erklären.7 Die genetische Zusammensetzung des B-Zell-Rezeptors verrät viel über die Geschichte seines Trägers: Während ihrer Reifung im Knochenmark bilden die unreifen B-Zell-Vorstufen durch das Rearrangement von Genvarianten Immunglobulin-Rezeptoren aus, die zur Negativ- oder Positivselektion der Zelle führen. B-Zellen, die etwa zu wenig oder körpereigene Proteine erkennen, werden aussortiert. Im Anschluss werden reife, „naive“ B-Zellen entlassen, die noch kein Antigen gesehen haben. Erkennen naive B-Zellen ihr Antigen in der Peripherie, teilen sie sich stark, woraufhin ihre B-Zell-Rezeptor-Gene sich einem „Klassenswitch“ unterziehen können, um der B-Zelle zu ermöglichen, nicht mehr nur das „unreifere“ IgD zu bilden, sondern auch noch weitere Immunglobuline wie z.B. IgA oder IgG. Außerdem können sie zu Memory-B-Zellen werden, die im Zuge der sogenannten Affinitätsreifung eine weitere Durchmutation ihrer B-Zell-Rezeptorgene durchmachen können.

Die Forscher vom britischen Wellcome Sanger Institute sequenzierten das Repertoire der B-Zell-Rezeptor-Gene von naiven und B-Memory-Zellen, das im Blut der Patienten vor und nach der Maserninfektion vorhanden war. Sie sahen, dass sich nach den Masern die Immunglobulin-Rezeptor-Repertoires beider Kompartimente geändert hatten: So hatten sich bei den naiven B-Zellen die Rezeptor-Repertoires nach der zahlenmäßigen Wiederherstellung der Lymphozyten nur unvollständig erholt. Außerdem wiesen die Rezeptoren der naiven B-Zellen genetische Anzeichen für höhere Unreife auf.

Auch bei den Memory-B-Zellen gab es nach den Masern Veränderungen. Während bei Kontrollpersonen, die entweder keine Maserninfektion durchlaufen hatten oder eine Grippeimpfung erhalten hatten, die Zusammensetzung der B-Zell-Klassen über den Untersuchungszeitraum sehr stabil war, hatten die B-Memory-Zellen von Masernpatienten signifikant seltener IgD- und häufiger IgG1- und IgG2-Rezeptoren, was darauf schließen lässt, dass mehr Zellen einen Klassenswitch durchgemacht hatten.

Die genetische Diversität der B-Zell-Rezeptoren war dabei interessanterweise nicht erniedrigt, sondern im Gegensatz sogar erhöht. Die Autoren vermuten, dass ein Wieder-Auffüllen des Memory-B-Zell-Pools mit neuen B-Zellen, etwa mit kurzlebigen polyreaktiven B-Zellen, stattgefunden haben könnte.

Wie auch die Forscher aus der Science-Arbeit zeigte die Gruppe eine Depletion von Memory-B-Zell-Klonen, die im Zuge bereits durchgemachter Infektionen oder Impfungen entstanden waren. Im Tierversuch sahen sie außerdem, dass Frettchen, die zuvor gegen die Grippe geimpft worden waren, nach einer Infektion mit dem Masern-ähnlichen Staupevirus ihre Antikörper gegen das Grippevirus verloren hatten und bei einer Grippeinfektion höhere Virustiter und stärkere Symptome entwickelten.

Referenzen

1 Michael J. Mina et al.: Science  01 Nov 2019: Vol. 366, Issue 6465, pp. 599-606. DOI: 10.1126/science.aay6485.

2 Gadroen K et al. Impact and longevity of measles-associated immune suppression: A matched cohort study using data from the THIN general practice database in the UK. BMJ Open 8, e021465 (2018).

3 de Vries RD et al. Measles immune suppression: Lessons from the macaque model. PLOS Pathog. 8, e1002885 (2012).

4 de Swart RL et al. Predominant infection of CD150+ lymphocytes and dendritic cells during measles virus infection of macaques. PLOS Pathog. 3, e178 (2007).

5 Laksono BM et al. Studies into the mechanism of measles-associated immune suppression during a measles outbreak in the Netherlands. Nat. Commun. 9, 4944 (2018).

6 Nelson AN et al. Evolution of T cell responses during measles virus infection and RNA clearance. Sci. Rep. 7, 11474 (2017).

7 Petrova VD et al. Incomplete genetic reconstitution of B cell pools contributes to prolonged immune suppression after measles. Sci. Immunol. 4, eaay6125 (2019). DOI: 10.1126/sciimmunol.aay6125

8 World Health Organization, New measles surveillance data for 2019 (2019); .

9 Dabbagh A et al., MMWR Morb. Mortal. Wkly. Rep. 67, 1323–1329 (2018).

10 Portnoy A et al., Lancet Glob. Health 7, e472–e481 (2019).