13. Okt. 2017

Gerinnungsfaktoren: Hämophilie und mehr

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SERIE Therapie von Gerinnungsstörungen – Teil 2: Genetisch bedingter Mangel eines Gerinnungsfaktors kann zu schweren Störungen der Blutgerinnung führen. Zahlreiche hereditäre Krankheitsbilder sind bekannt, die meisten davon sehr selten. Wie schwer und therapiebedürftig die Klinik ausfällt, hängt davon ab, welcher Faktor betroffen und wie stark der Plasmaspiegel reduziert ist. (Clinicum 3/17)

Seit dem Altertum sind erblich bedingte Störungen der Blutgerinnung bekannt. Durch ihre Verbreitung in den europäischen Königshäusern erlangte die „Bluterkrankheit“ im 19. Jahrhundert auch außerhalb medizinischer Kreise Bekanntheit. In den 1950er Jahren wurden verschiedene Gerinnungsfaktoren entdeckt, die Hämophilie als Mangel an Faktor VIII beschrieben. Als im Laufe der Jahre auch ein Faktor­IX­Mangel gefunden wurde, erfolgte eine Differenzierung in Hämophilie A und B. Mittlerweile sind zahlreiche weitere Gerinnungsstörungen bekannt, die durch genetisch bedingten Mangel weiterer Faktoren verursacht werden. Viele davon sind äußerst seltene Erkrankungen.

Die durch Faktor-VIII-Mangel verursachte Hämophilie A ist eine angeborene, X­chromosomal rezessiv vererbte Gerinnungsstörung. Die Häufigkeit beträgt 1:10.000. Bei der mit 1:60.000 deutlich selteneren Hämophilie B besteht Faktor-IX-Mangel. Bei beiden Hämophilien kann der betroffene Faktor vollständig oder partiell fehlen. Bei der schweren Hämophilie ist die Aktivität des Faktors unter ein Prozent der Norm, bei der milden Hämophilie ein bis fünf Prozent und bei der leichten Hämophilie fünf bis 50 Prozent. Die Lebenserwartung der Patienten mit vollem Zugang zu Faktorenkonzentraten unterscheidet sich heute unter entsprechender Therapie nicht mehr von der Normalbevölkerung.

Verminderte Faktor-VIII- bzw. -IX-Spiegel

Verdacht auf eine Hämophilie sollten generalisierte Hämatomneigung, Spontanblutungen (insbesondere Gelenksoder Weichteilblutungen) sowie starke Blutungen nach einem Trauma oder operativen Eingriff wecken, die bei schwerer Hämophilie schon im frühen Kindesalter auftreten. Im Gegensatz dazu können Patienten mit leichter Hämophilie lange Zeit asymptomatisch bleiben. Eine negative Familienanamnese schließt eine Hämophilie nicht aus, da rund 30 Prozent aller Patienten eine Neumutation des Gens für den Gerinnungsfaktor VIII bzw. IX aufweisen. Die definitive Diagnose erfolgt durch Nachweis des verminderten Faktor­-VIII- bzw. ­IX­-Spiegels. Die Blutungsneigung korreliert mit der Faktor-­VIII- bzw. Faktor-­IX­-Aktivität. Die Bestätigung der Diagose sollte durch eine genetische Untersuchung erfolgen. Die Art der Mutation lässt auch Rückschlüsse auf potenzielle Probleme bei der Behandlung durch Entwicklung inhibitorischer Antikörper gegen die Faktorentherapie zu.

Bei schweren Blutungen Spezialisten zuziehen

Bei Patienten mit Hämophilie sollten akute Blutungen sofort behandelt werden, bei schweren Blutungen in Absprache mit einem spezialisierten Zentrum. Bei leichter bis mittelschwerer Hämophilie A kann das synthetische Vasopressin-­Analogon Desmopressin, das den Faktor-VIII­Spiegel um das Zweibis Achtfache hebt, eingesetzt werden. Bei allen schweren Blutungen insbesondere im Kopf­-Hals­-Bereich, ZNS, Gastrointestinaltrakt, Thorax und Abdomen müssen unverzüglich Faktorenkonzentrate zum Einsatz kommen. Das interdisziplinäre Management sollte im Team mit Hämatologen, Or thopäden, Zahnarzt, Genetiker, Pädiater und Infektiologen erfolgen.

Lebenslange Prophylaxe mit Faktorenkonzentraten

Patienten mit schwerer Hämophilie benötigen eine lebenslängliche Prophylaxe mit Faktorkonzentraten zur Blutungsprävention. Etwa ein Viertel der Patienten mit schwerer Hämophilie A und ein bis drei Prozent der Patienten mit schwerer Hämophilie B entwickeln eine Alloimmunisierung auf die Faktortherapie. Bei niedrigem Titer der inhibitorischen Antikörper kann diese durch den Einsatz einer höheren Dosierung des Faktorenkonzentrats ausgeglichen werden. Hochtitrige Inhibitoren (BU >5) müssen mit „bypassing agents“ (rekombinanter aktivierter Faktor VII oder aktiviertes Prothrombin­Komplex­Konzentrat) behandelt werden. Eine längerfristige Eradikation des Inhibitors gelingt mit einer Immuntoleranztherapie.

Auch seltene Faktorenmängel sind behandelbar

Als Hämophilie C oder Rosenthal-Syndrom wird die angeborene (autosomal rezessive) oder erworbene Gerinnungsstörung aufgrund eines Faktor-XI-Mangels bezeichnet. Homozygote bzw. Compound­heterozygote Patienten weisen einen Faktor-XI­-Spiegel von unter 15 Prozent auf, heterozygote einen von 25 bis 70 Prozent. Spontanblutungen sind selten, allerdings benötigen die Patienten nach Traumata oder vor chirurgischen Eingriffen eine Anhebung ihrer Faktor­XI­Spiegel. Die Substitutionsdauer beträgt zehn Tage, wobei ein regelmäßiges Monitoring erforderlich ist. Da spezifische Faktor­XI­Konzentrate nicht verfügbar sind, erfolgt dies mittels virusinaktivierten Plasmapräparaten. Bei kleinen operativen Eingriffen sind Antifibrinolytika mit „Stand by“­Substitutionstherapie zumeist ausreichend.

Therapie erfolgt mit virus-inaktiverem Frischplasma

Als Parahämophilie A (Hypoproak-zelerinämie, Owren-Syndrom) wird der autosomal­rezessiv vererbte Mangel des Faktor-V (Proakzelerin) bezeichnet. Dieser ist mit einer Prävalenz von 1:1.000.000 für homozygote Träger wesentlich seltener als die Hämophilien. Homozygote zeigen sehr niedrige Faktor­V­Spiegel und bereits ab der Geburt schwere Blutungen. Heterozygote Patienten weisen einen milden Blutungsphänotyp auf. Derzeit ist kein Faktor­V­Konzentrat verfügbar, die Therapie erfolgt daher mit virusinaktiviertem Frischplasma. Bei Operationen oder schweren Blutungen sind ein bis zweimalige tägliche Plasmainfusionen erforderlich, um eine Faktor­VMinimalkonzentration von 25 Prozent bis zur Wundheilung zu erreichen. Dabei ist ein engmaschiges Monitoring der Faktor­V­Aktivitäten notwendig.

Milde Blutungen können auch mit Antifibrinolytika (z.B. Tranexamsäure) behandelt werden. Die häufigste unter den sogenannten seltenen angeborenen Gerinnungsstörungen ist der Faktor-VII-Mangel mit einer Prävalenz homozygoter Träger von 1:500.000. Diese zeigen stark erniedrigte Faktor-­VII­-Spiegel. Im Gegensatz dazu liegen beim noch weitaus häufigeren heterozygoten Faktor-VII­-Mangel die Faktor­VII­Plasmaspiegel in der Größenordnung von ca. 50 Prozent der Norm, was zu keiner Blutungsneigung führt. Bei heterozygot Betroffenen können trotz verminderter PTZ alle großen Operationen ohne Vorbereitung durchgeführt werden. Hingegen treten bei sehr niedrigen Faktor­-VII-­Werten verschiedenste Blutungen auf, wobei keine klare Korrelation zwischen dem Faktor-VII-­Spiegel und dem Ausmaß bzw. dem Schweregrad der Blutungssymptome besteht. Pathognomonisch für einen Faktor­-VII­-Mangel ist im Labor eine PTZ­Erniedrigung bei gleichzeitig normaler aPTT.

Faktor-VII­-Spiegel von 10 bis 20 Prozent sind für eine normale Blutstillung ausreichend. Nur bei klinisch relevanter Blutungsneigung bzw. vor Operationen ist eine Substitution notwendig. Zur gezielten Substitution von Faktor-VII steht ein plasmatisches Faktor­-VII-Konzentrat zur Verfügung (Faktor-VII Baxter®) und ist Therapieoption der ersten Wahl. Zur Behandlung des schweren Faktor­-VII­-Mangels zugelassen ist das rekombinante, aktivierte Faktor­VII­Konzentrat NovoSeven®. Tranexamsäure (Cyklokapron®) kann insbesondere bei Menorrhagie eingesetzt werden.

Heterozygot-Betroffene oft asymptomatisch

Die hereditäre Form des Faktor-X-Mangels (Stuart-Prower-Faktor) wird autosomal­rezessiv vererbt mit einer Inzidenz bei 1:1 Million für die homozygote Form. Der Schweregrad der Blutungen korreliert mit dem Faktor­X­Spiegel, daher werden Schweregrade in Abhängigkeit vom Faktor­-X­-Spiegel unterschieden. Betroffene mit Faktor-­X­-Spiegeln über 20 Prozent sowie heterozygote Patienten sind zumeist asymptomatisch. Eine Behandlung erfolgt mit Prothrombinkomplex­Konzentraten (PCC). Aufgrund der langen HWZ genügt eine einmalige Verabreichung in 24 Stunden. Noch seltener ist der angeborene Faktor-II-Mangel (angeborener Prothrombinmangel), der mit einer Prävalenz von 1:2 Millionen auftritt. Unterschieden werden dabei:

  • Typ­I­Defizienz : Hypoprothrombinämie (verminderte Antigenund Aktivitätsspiegel) und
  • Typ­II­Defizienz: Dysprothrombinämie (normale Antigen­, jedoch verminderte Aktivitätsspiegel).

Prothrombinkomplex-Konzentrate als Therapie der Wahl

Bei homozygoten Patienten mit einem Faktor­II­Spiegel unter zehn Prozent können schwere gastrointestinale sowie Muskel­, Gelenks- und auch ZNS­Blutungen auftreten, während heterozygote Patienten mit Faktor­II­Spiegeln zwischen 40 und 60 Prozent meist asymptomatisch bleiben, jedoch nach Traumata oder Operationen ein erhöhtes Blutungsrisiko zeigen. Da kein dezidiertes Prothrombinkonzentrat zur Verfügung steht, sind Prothrombinkomplex-Konzentrate (PCC) die Therapie der Wahl. Der Zielwert für den Faktor­-II-Spiegel liegt bei 10–15 Prozent bei kleinen Blutungen bzw. Operationen sowie bei 20–40 Prozent bei größeren Traumata oder Operationen. Ist kein Prothrombinkonzentrat verfügbar, kann virusinaktiviertes Frischplasma eingesetzt werden. Für kleinere Schleimhautblutungen eignen sich Antifibrinolytika (z.B. Tranexamsäure, Cyklokapron®). Ebenfalls mit 1:2 Millionen tritt die homozygote, schwere Form des Faktor-XIII-Mangels mit einem FaktorXIII­Plasmaspiegel von ≤5 Prozent auf.

Heterozygote Patienten erreichen ca. 50 Prozent des Normalwertes und bedürfen prinzipiell keiner Therapie. Die globalen Gerinnungsparameter (PTZ, aPTT, TZ) sind nicht verändert, der Faktor­-XIII­-Spiegel muss mit einem speziellen Test gemessen werden. Die Klinik ist schwerwiegend. Blutungssymptome äußern sich in Form von Nabelschnurblutungen, oberflächlichen und subkutanen Hämatomen, Mundhöhlenund Schleimhaut sowie ZNS­Blutungen, Muskel und Gelenksblutungen sow ie Epistax is und Urogenital­GastrointestinaltraktBlutungen. Darüberhinaus treten auch Wundheilungsstörungen, Menorrhagien und habituelle Aborte auf. Therapie der Wahl ist Fibrogammin P® (plasmatisch, virusinaktiviert). Für die Hämostase sind Faktor­-XIII-Plasmaspiegel von fünf bis zehn Prozent ausreichend. Falls Faktor-­XIII-Faktorkonzentrate nicht verfügbar sind, kann auf (virusinaktiviertes) FFP ausgewichen werden. Ein rekombinantes Faktor-­XIII­-Präparat ist in Entwicklung und wird in naher Zukunft verfügbar sein.

Teil 1 der Serie: Blutungsneigung: Auch an die Thrombozyten denken
Teil 3 der Serie: Von-Willebrand-Syndrom: oft schwierige Diagnose