19. Nov. 2018Atherosklerose-Prävention

Familiäre Hypercholesterinämie zu 90 Prozent undiagnostiziert!

Thomas Maria Laimgruber

Das ambitionierte Projekt „Fass Dir ein Herz“ will mit Screening und Register die hohe Dunkelziffer an Menschen, die von einer familiären Hypercholesterinämie betroffen sind, senken.

Die familiäre Hypercholesterinämie ist eine schwere Erkrankung, die unbehandelt schon im Kindes- und Jugendalter zu Herzinfarkten und Schlaganfällen führen kann. „Die Prävalenz dieser Erkrankung ist wesentlich höher als wir bisher dachten, wie wir aus den Daten des Dutch Lipid Clinic Network wissen“, sagt Univ.-Prof. DDr. Christoph Binder, Klinisches Institut für Labormedizin, AKH/MedUni Wien. „Einer von 250 Menschen ist betroffen, was für Österreich bedeutet, dass eine Population von 40.000 erkrankt ist. Die Therapie ist nicht das Problem – hier gibt es wirksame Cholesterinsenker. Das Problem ist, dass wir nur bei etwa zehn Prozent der Betroffenen die Erkrankung diagnostiziert haben.“

Pilotprojekte gestartet

Gegen diese hohe Dunkelziffer vorzugehen gehört dementsprechend zu den Top-Zielen der Österreichischen Atherosklerose Gesellschaft (AAS). So bemüht sie sich um Aufnahme des Cholesterin-Screenings in den Mutter-Kind-Pass – bisher ohne Erfolg. Immerhin konnte die AAS mit zwei Pilotprojekten starten. Das erste ist ein an öffentlichen Wiener Volksschulen laufendes Programm, wo die Eltern vor Einschulung des Kindes nach frühen Herzinfarkten oder Schlaganfällen in der Familie sowie hohem Cholesterin bzw. Cholesterinsenker-Einnahme gefragt wird.

Das zweite Projekt mit dem Namen „Fass Dir ein Herz“ wurde in den Städten Graz, Innsbruck und Wien gestartet und soll auf ganz Österreich ausgerollt werden. Zentral ist die Identifizierung von sog. Index-Patienten, das ist die erste Person einer Familie, bei der die familiäre Hypercholesterinämie diagnostiziert wird. Eine molekulargenetische Bestätigung der Diagnose ist Basis für die individuell adäquate Therapie und für die vereinfachte und kostengünstige Abklärung der Verwandten ersten und zweiten Grades (Kaskaden-Screening). Während die Kosten für die molekulargenetische Untersuchung des Index-Patienten derzeit bei etwa 500 Euro liegen, kann man sich bei der Abklärung der Familienmitglieder auf die Suche nach der beim Index-Patienten gefundenen pathogenen Mutation beschränken. „Diese gezielten Tests sind naturgemäß wesentlich günstiger“, sagt Projektleiter Binder. Die Daten des Screenings sollen in einem Register anonymisiert erfasst werden.

Index-Patienten identifizieren

Allein aufgrund der Lipidbefunde würde die Diagnose familiäre Hypercholesterinämie zu häufig gestellt. Nur etwa ein Zehntel der Betroffenen mit isolierter Erhöhung des LDL-Cholesterins hat tatsächlich eine familiäre Hypercholesterinämie. Differentialdiagnosen sind vor allem die familiär kombinierte Hyperlipoproteinämie und die “polygene” Hypercholesterinämie.

Andererseits wird innerhalb der betroffenen Familien die Diagnose zu selten gestellt, da bei Merkmalsträgern andere Einflüsse den Rezeptordefekt partiell kompensieren können. Das unterstreicht die Bedeutung einer sorgfältigen Diagnostik und Differentialdiagnostik inklusive molekulargenetischer Abklärung, die die Sequenzierung des LDL-R, von ApoB-100 und PCSK9 umfasst. Patienten mit einem Dutch Lipid Clinic Network Score von ≥6 Punkten (siehe Kasten) sollten in das Register eingeschlossen werden.

Unterlagen zum Projekt „Fass Dir ein Herz“ finden Sie auf der Internetseite der AAS: https://www.aas.at/pages.php?page=35

„Neues aus der Laboratoriumsmedizin. Fortschritte bei Früherkennung und individualisierten Therapien“, Pressekonferenz der Gesellschaft für Laboratoriumsmedizin und klinische Chemie, Wien, 19.11.18

Der Dutch Lipid Clinic Network Score
Kriterium Punkte
Verwandter ersten Grades mit frühzeitigen kardiovaskulären Erkrankungen oder LDL-C >95. Perzentile 1
Verwandter ersten Grades mit Xanthomen oder Arcus lipoides oder Kinder unter 18 Jahren mit LDL-C >95. Perzentile 2
Frühzeitige koronare Herzkrankheit in der Anamnese 2
Frühzeitige zerebrovaskuläre oder periphere Verschlusskrankheit in der Anamnese 1
Sehnenxanthome 6
Arcus lipoides (<45 Jahre) 4
LDL-C >328mg/dl 8
           250-328 mg/dl 5
           193-259 mg/dl 3
           155-193mg/dl 1
Mutationsnachweis 8

3-5 Punkte: eine familiäre Hypercholesterinämie ist möglich
6-7 Punkte: eine familiäre Hypercholesterinämie ist wahrscheinlich
>8 Punkte: es liegt sicher eine familiäre Hypercholesterinämie vor