Alte Diabetiker nicht über einen Kamm scheren

Nicht alle geriatrischen Patienten brauchen eine gleich straffe HbA1c-Einstellung, manche Senioren profitieren viel mehr von einer weniger strengen Therapie. Eines gilt jedoch für alle: Hypoglykämien sollten unbedingt vermieden werden. (Medical Tribune 13/18)

Eine ältere Dame, 80 Jahre, kommt wegen Müdigkeit in den letzten Wochen ins Spital. Sie hat an Gewicht verloren und war in letzter Zeit vermehrt verwirrt. Sie ist klinisch exsikkiert, das CRP und die Leukozyten sind erhöht. Der Allgemeinzustand verbessert sich nach Volumstherapie sehr rasch. Auffallend ist ein Nüchternblutzucker von 110 mg/dl. Ein Diabetes war bis dato nicht bekannt. Der orale Glukosetoleranztest (oGTT) ergibt einen Blutzucker-Wert nach zwei Stunden von 224 mg/dl, womit die Diagnose eines Diabetes feststeht.

„Das ist die erste wichtige Botschaft, die ich Ihnen mitgeben möchte“, so Priv.-Doz. Dr. Joakim Huber, Vorstand der Internen Abteilung mit Akutgeriatrie und Palliativmedizin, Franziskus Spital, Standort Landstraße: „Diabetes im Alter wird mitunter nicht erkannt, weil er subtil und oftmals nicht so stark ausgeprägt ist.“ Generell gelte, dass sich alte Menschen nicht selten erst durch die Glukosebelastung manifestieren, aber selbstverständlich könne auch das HbA1c als diagnostisches Kriterium herangezogen werden, so der Endokrinologe und Geriater. Bei einem HbA1c > 6,5 % spricht man von einem Diabetes, ebenso bei einem 2-Stunden-Wert im oGTT von ≥ 200 mg/dl (Diagnose siehe unten). Liegt der HbA1c knapp unter 6,5 %, befinde man sich genauso wie bei einem 2-Stunden-Wert von ≥ 140, aber ≤ 199 mg/dl in einem Graubereich, der als Glukosetoleranzstörung gewertet werden kann.

Therapie bei Go-Gos, Slow-Gos und No-Nos

Bei den Therapiezielen hat sich in den letzten Jahren sehr viel getan: weg von einem starren HBA1c hin zu einem individuellen Zielwert für jeden einzelnen Patienten. Generell sollten betagte Menschen nicht allzu aggressiv behandelt werden, vor allem bei langjähriger Erkrankung, hohem Hypoglykämierisiko, kardiovaskulären Begleiterkrankungen und kurzer Lebenserwartung, so Huber. „Hier bringt eine sehr strenge Einstellung nichts, im Gegenteil: Sie schadet nur.“ Ein HbA1c-Zielwert von unter 6,5 % gilt daher für die meisten geriatrischen Patienten nicht, der Spielraum reicht je nach Konstitution von 6,5 % bis 8 oder sogar 8,5 %. Huber empfiehlt, die Patienten einer von drei Gruppen zuzuteilen und dementsprechend zu behandeln (siehe unten):

  • Die Go-Gos sind zwar alt, haben aber eine gute Lebenserwartung und sind noch relativ mobil und unabhängig. Diese Patienten können auf einen HbA1c von 6,5 bis 7,5 % eingestellt werden.
  • Die Slow-Gos sind etwas eingeschränkt, brauchen bereits Hilfe und haben schon typische geriatrische Symptome wie eine beginnende Demenz, funktionelle Einschränkungen oder Inkontinenz. Hier tut es auch ein HbA1c von 7 bis 8 %.
  • Und die No-Gos sind absolut hilfsbedürftig bzw. bettlägrig und haben eine begrenzte Lebenserwartung. Sie sind mit einem HbA1c von 8 bis 8,5 % am besten aufgehoben. Bei diesen Patienten geht es eher darum, Symptome zu kontrollieren und die Lebensqualität bestmöglich zu erhalten.

Für den Blutzucker (BZ) gelten folgende Richtwerte: Der Nüchtern-BZ sollte idealerweise unter 100 mg/dl liegen, bei 130 mg/dl ist Huber allerdings auch schon zufrieden, wie er sagt. Postprandial (zwei Stunden nach dem Essen) sollte der BZ nicht größer als 180 mg/dl sein.

Metformin jetzt auch bei GFR < 60 möglich

Lebensstilinterventionen stellen die Basis jeder Therapie dar. Aber auch hier gilt: Bei der Ernährung sollte man beim alten Menschen nicht allzu streng sein, denn es droht mitunter eine Malnutrition. Ausnahmen sind freilich übergewichtige Go-Go-Patienten. Rasch resorbierbare Kohlenhydrate sollten vermieden werden. Gute Ergebnisse bringt – auch beim alten Patienten – die mediterrane Diät. Bewegung gehört je nach Möglichkeiten ebenfalls zum Therapieplan. Empfohlen sind 150 Minuten Ausdauertraining pro Woche und zwei Mal pro Woche 35 Minuten Krafttraining. Ist der Patient eingeschränkt, geht es eher darum, die Inaktivität zu reduzieren.

Sinnvoll wäre in diesem Fall, eine Physiotherapie für den Patienten zu organisieren. Metformin kommt ab einem HbA1c von > 6,5 % ins Spiel. Da hat sich etwas Wichtiges getan, betont Huber: „Sie können Metformin jetzt auch bei einer GFR von unter 60 geben.“ Ab einer GFR von 45 ml/min/1,73m2 muss die Dosis jedoch reduziert werden, bei einer GFR < 30 ml/min/1,73m2 ist Metformin ganz abzusetzen. Vorsicht ist nach wie vor geboten, wenn die Nierenfunktion plötzlich drastisch nachlässt, zum Beispiel bei Exsikkose oder Kontrastmittelgabe! Ist das HbA1c > 9 %, kann gleich mit einer dualen Therapie begonnen werden. Huber: „Sie entscheiden selbst, welche zweite Substanzklasse Sie geben.“

Schwere Hypos unbedingt vermeiden

Dass die Wahl nicht immer die richtige ist, zeigt der Fall der zu Beginn erwähnten Patientin: Ihr hatte man Metformin und einen Sulfonylharnstoff verschrieben. „Sie dürfen mich nicht fragen, warum“, wundert sich Huber heute noch. Ein halbes Jahr später kam sie auf die Unfallambulanz, weil sie gestürzt war. Das Kreatinin war erhöht und sie war exsikkiert. Die Blutzuckermessung ergab einen Wert von 27 mg/dl. Sie hatte also unter der Therapie eine massive Hypoglykämie entwickelt, die mit Glukose i.v. behandelt wurde. Huber: „Das ist ganz wichtig! Bitte nehmen Sie das mit: Hypos im Alter sind unbedingt zu vermeiden!“ Denn protrahierte schwere Hypoglykämien können alte Patienten – wenn sie stürzen und sich den Schenkelhals brechen – massiv zurückwerfen und sie in die Pflegebedürftigkeit katapultieren. Unter Umständen kosten Hypoglykämien den betagten Menschen sogar das Leben, denn sie können auch kardiovaskuläre Komplikationen nach sich ziehen.

Das Tückische ist, dass sich Hypoglykämien im Alter nicht anhand typischer Symptome wie Herzrasen und Schweißausbruch manifestieren, sondern eher mit Verwirrtheit, Stürzen und Schwäche einhergehen. Huber: „Protrahierte Hypos sind ein Nachteil der Sulfonylharnstoffe. In meinen Augen ist das keine geeignete Substanzklasse für den alten geriatrischen Patienten.“ Die Patientin bekam statt des Sulfonylharnstoffs einen DPP-4-Hemmer. Huber: „Ihre Wirkung ist gut, sie sind kardiovaskulär sicher, und es ist keine Hypogefahr gegeben.“ Allerdings ist auch bei den meisten DPP-4-Hemmern eine unter Umständen nachlassende Nierenfunktion im Auge zu behalten. Eine weitere Substanzklasse, die prinzipiell auch beim alten Menschen gut einsetzbar ist, sind die SGLT- 2-Hemmer, so Huber. Vorsicht ist jedoch bei einer Neigung zu genitalen Infektionen geboten.

Darüber hinaus müssen die Patienten gut über den Wirkmechanismus aufgeklärt werden, denn unter SGLT-2-Hemmern kommt es zur verstärkten Diurese, die den Flüssigkeitshaushalt des älteren Menschen mitunter ordentlich durcheinanderbringen kann. Wichtig ist auch hier, dass die Nierenfunktion intakt ist. GLP-1-Rezeptor-Agonisten eignen sich trotz ihrer guten Wirkung nicht für alle alten Menschen, denn sie führen zu einer Gewichtsreduktion, die z.B. bei bereits mangelernährten Patienten nicht erwünscht ist. Pioglitazon hat laut Huber „Vorteile, aber auch Grenzen“ – gerade beim alten Patienten: Flüssigkeitsretention, Gewichtszunahme, vermehrtes Auftreten von Herzinsuffizienz und erhöhte Frakturrate.

Diagnose Diabetes

Manifester Diabetes

  • BZ nach 2 Stunden im oGTT ≥ 200 mg/dl
  • HbA1c > 6,5 %

Glukosetoleranzstörung

  • BZ nach 2 Stunden im oGTT ≥ 140, aber ≤ 199 mg/dl
  • HbA1c zwischen 5,7 und 6,4 %

HbA1c-Ziele bei alten Patienten

Go-Gos: HbA1c von 6,5 bis 7,5 %
Slow-Gos: HbA1c von 7 bis 8 %
No-Gos: HbA1c von 8 bis 8,5 %

16. Tagung für Allgemeinmedizin & Geriatrie; Wien, November 2017

 

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune