4. März 2019

Ab jetzt bin ich Ärztin mit Grenzen

Gerade lese ich einen Artikel, der mich warnt, dass wir Ärzt/innen häufiger „Burnout“-gefährdet sind als viele andere Berufsgruppen. Nur Lehrer oder Feuerwehrleute übertreffen uns noch. Eigentlich mag ich die Diagnose „Burnout“ überhaupt nicht. Weil sie einfach so „in“ ist und weil schon jeder Sechzehnjährige, von dem ein wenig Leistung gefordert wird, sich als potenzielles Opfer dieser heimtückischen Erscheinung wähnt.

S wie Selbstevaluation

Ich sehe Leistung als etwas sehr Positives und bin außerdem der Überzeugung, dass gelegentliche Selbstüberwindung und ein Tritt in den Allerwertesten bekömmlicher sind als arm sein und jammern. Ab er wie schon Paracelsus sagte: Die Dosis macht das Gift. Und da ich derzeit vor lauter Tritt in den eigenen Allerwertesten schon blaue Flecken habe und in meinem Kopf ein Dauerohrwurm spukt: „Still, still, still, weil ich endlich schlafen will …“ (Weihnachtslied etwas abgewandelt), dämmert mir, dass Handeln angesagt ist.

Eine kurze Selbstevaluation zeigt mir Schlafstörungen. Interne aufgrund von Grübeln und massiven Nackenschmerzen und externe aufgrund eines schnarchenden Katers in unserem Bett. Die Verleugnung der eigenen Bedürfnisse ist insofern kein Thema, als mir im Moment keine Bedürfnisse einfallen, die ich verleugnen könnte. Und für den Verlust der Erholungsfähigkeit kann ich leider auch nichts. Diese ist irgendwie zwischen kranken Schwiegereltern, kaputtgehenden lebenswichtigen Systemen in Haushalt und Ordi und der Intensivpflege einer todkranken Katze (Vergiftung?) verlustig gegangen.

Zeit, an mich zu denken

Da nun aber die Schwiegereltern wieder wohlauf sind, alles Lebenswichtige repariert und besagte Katze wieder ein normales Bilirubin, einen wenigstens unterdurchschnittlichen Hämatokrit und ein fast normales Körpergewicht hat, kann ich endlich anfangen, an mich zu denken.

Ich weiß ja eh, woran es bei mir krankt. Da sind einmal die Ansprüche an die eigene Person und der mir innewohnende Perfektionismus. Diesbezüglich bin ich mir aber noch nicht einmal sicher, ob ich diesen Teil wirklich loslassen möchte. Denn immerhin macht er die Qualität in meiner Arbeit aus. Und abgesehen von der medizinischen Qualität will ich, dass es hier blitzsauber ist, dass die Patienten möglichst keine Wartezeiten haben und dass sie rundherum gut versorgt und auch gegebenenfalls von uns gut durchorganisiert werden.

Nein, da will ich nicht ansetzen. Vielleicht erlaube ich mir als kleines Zugeständnis in der Grippezeit, dass die Einschubtermine ein bisschen länger im Wartezimmer sitzen, ohne dass ich deshalb ein schlechtes Gewissen bekomme oder mir vor lauter Hektik übel wird.

Wo aber dringend angesetzt gehört, ist die Fähigkeit, mich abzugrenzen. Das führt mir der heutige Tag ganz klar vor Augen. Mein Bedürfnis, die Welt zu retten und es dabei auch noch allen recht zu machen, bringt mich sonst ins Grab. Also bin ich ab heute Ärztin mit Grenzen.

Die erste Grenze setzen wir bei neuen Patienten. Natürlich nehmen wir trotzdem jeden Tag welche. Weil sie in unmittelbarer Nähe wohnen oder weil sie in der Türe stehen und ganz arm sind.

Standhaft bleiben

Heute ruft eine Dame an, ihr Hausarzt geht in Pension und sie will einen Termin bei mir. Meine Assistentin erklärt ihr, dass wir derzeit keine neuen Patienten nehmen, vor allem da der Hausarzt ja noch gar nicht in Pension ist. Sie wird ein wenig unangenehm und verlangt, mit mir zu sprechen. Kein schönes Gespräch, das folgendermaßen endet: „Das hab ich ja noch nie gehört, dass ein Arzt keine Patienten mehr nimmt, dürfen Sie das überhaupt?“ So wie ich das sehe, hätten wir beide sowieso keine liebevolle Beziehung aufgebaut. Und natürlich droht sie mir, dass die Sache ein Nachspiel haben wird. Aber ich bleibe standhaft. Ich will mich nicht mehr erpressen lassen, zumal nach meiner leidvollen Erfahrung da nix Gescheites rauskommt und im Endeffekt nicht nur der Arzt, sondern auch der Patient darunter leidet.

Meine nächste Tat ist es, eine Pharmareferentin zu vergraulen. Ich mag die Dame sehr, und als sie noch mit Antibiotika und später mit Antidepressiva unterwegs war, habe ich ihr auch gerne zugehört. Jetzt vertritt sie aber ein Produkt, das ich nicht mal erstverschreiben darf und für das ich einfach nicht die Patientenzielgruppe habe. Ich bitte sie um Verständnis, dass ich diesbezüglich keine Information haben möchte, auch keine Guidelines und auch keine tolle Computerpräsentation. Ich will mich dafür nicht interessieren müssen und das bissi Resthirn, das mir an Tagen wie heute noch übrigbleibt, gezielt einsetzen. Sie ist bitterböse auf mich, und fast wäre ich umgekippt und hätte mir ihr zuliebe die Präsentationen reingezogen. Aber heute muss ich lernen, nicht gemocht zu werden.

So auch von Patientin T., die drei Minuten vor Ordinationsende anruft. Sie ist seit einer Woche krank und möchte heute unbedingt noch vorbeikommen. Natürlich fühle ich mich sofort verantwortlich, schaffe es aber dann doch, Nein zu sagen. Denn heute will ich heim und meine Bedürfnisse suchen. Wer weiß, vielleicht finde ich ja eines?

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune