13. März 2018

Manchmal mag ich nimmer müssen

Ich glaube, ich habe in letzter Zeit zu oft gesagt und auch geschrieben, wie sehr ich meinen Job und meine Patienten liebe. Man soll die Arbeitswoche nicht vor ihrem Ende loben! Der Vormittag beginnt eigentlich ganz harmlos mit ein paar Vorsorgeuntersuchungen vor der Ordinationszeit. Die Leute sind lieb, pünktlich, drei von vier sind auch gewaschen (eine gute Quote im Moment, eine sehr gute), und überraschenderweise kommen wirklich nur die vor der Ordizeit Bestellten auch vor der Zeit. Nicht so wie an anderen Tagen, an denen Patienten ohne Termin eine Dreiviertelstunde vor Ordibeginn in der Tür stehen und den Aufstand proben, weil wir für sie nicht sofort den roten Teppich ausrollen. Wir sind jedenfalls glücklich und entspannt. Ich genieße es, ungestört einmal ein wenig mehr Zeit für die Patienten zu haben, als das Kassenhonorar eigentlich hergibt. Der offizielle Tag kann beginnen.

G wie Grenzerfahrungen

Als Erstes erscheint eine Lehrerin in meinem Sprechzimmer. Halsentzündung. Im Augenblick nicht wirklich etwas weltbewegend Kreatives. Und auch nicht tragisch. Meine Fragen ignoriert sie und erzählt mir unbeirrt das Drama ihres Halses in drei Akten. Jedes Mal, wenn sie Luft holt, was selten genug passiert, versuche ich wieder etwas relevante Information aus ihr herauszuwürgen, vergeblich. Trotzdem nehme ich mir die Freiheit, sie therapieren zu wollen. Das kann ich mir einfach nicht abgewöhnen. Aber egal, was ich vorschlage, sie will es nicht und weiß es besser. Sie erklärt mir dann auch noch, wie ich sie krankzuschreiben habe, und entfernt sich, sehr zufrieden mit der Konsultation. Da klingelt mein Telefon. Ein Herr, in diesem Quartal bereits bei einem anderen Hausarzt und geographisch nicht gerade in nächster Nähe wohnend, lässt sich an der Rezeption nicht abwimmeln.

Ich habe mittlerweile die Landkarte der ärztlichen Versorgung in der näheren und weiteren Umgebung recht gut im Kopf. Also trabe ich in die Rezeption und erkläre ihm, dass er erstens im Quartal den Hausarzt nicht wechseln kann und dass er, wenn er Dr. A. nicht mag, am besten daneben zu Dr. B. geht. Und arbeite mich weiter bis ungefähr G. Aber die hat er alle schon ausprobiert und alle sind inkompetent und keiner versteht ihn. Woran das wohl liegen mag? Ich wiederhole noch einmal, was wir ihm schon mitgeteilt haben: Wir nehmen neue Patienten nur aus unserer Gegend, und Wechsel während des Quartals sind nicht drin. Er rückt mir etwas weiter auf die Pelle und wird etwas lauter. Jetzt erkläre ich ihm, dass ich zwischen uns auch keine guten Schwingungen verspüre und nicht an eine positive Arzt-Patienten- Zukunft glaube. Irgendwann kapiert er’s doch. Das Wartezimmer hat sich in der Zwischenzeit gefüllt, und ich nehme im Vorbeihetzen Herrn B. gleich mit zum Besprechen seiner 24-h-Blutdruckmessung. Einer der wenigen Befunde, die noch mit der Post einlangen und den er deshalb draußen in der Rezeption in die Hand gedrückt bekommen hat.

„So, schauen wir uns das mal an. Wo ist Ihr Befund? Haben Sie den nicht mit hereingenommen?“ Nein, der liegt noch draußen. „Ist gut, ich hol ihn schnell“, sage ich und sprinte wieder hinaus, um die Zettel zu holen. „So bleiben Sie fit!“, lacht er mich an. („Und sie fett“, aber das darf ein lieber Hausarzt ja nicht einmal denken.) Trotzdem mache ich weiter, Patient für Patient mit viel Geduld und Freundlichkeit. Kurz nach Ende der Vormittagsordination kommt noch ein Notfalleinschub. Zum Mutter Kind Pass. „Wie bitte? Was?“ Ein Notfall- MKP ist mal was Neues. Immerhin hat man ja von der 17.–20. Woche Zeit, mal kurz beim Hausarzt vorbeizuschauen. Die Dame, die schon zum dritten Mal Mutterfreuden entgegenblickt, sieht nicht nach 20. Schwangerschaftswoche aus. Ich frage also nach. Keine Ahnung, welche Woche. Das weiß sie nicht. Anhand des nahenden Geburtstermins rechne ich und lande zwischen 30. und 32. SSW. Aber Hauptsache, meine Mittagspause wird kürzer. Der Nachmittag beginnt zivilisiert. Wenn man die Belagerung der noch verschlossenen Ordinationstüre vor der Zeit nicht rechnet.

Irgendwann sind dann alle Bestellten und auch alle Einschübe abgearbeitet. Da läutet wieder das Telefon, und ich höre die Beste aller Assistentinnen schon sagen: „Da muss ich jetzt die Frau Doktor fragen.“ Es ist ein junger Mann, Halsweh seit sechs Tagen. Muss heute zu Ordinationsende noch unbedingt angeschaut werden. Soll meinetwegen kommen, einer geht schon noch. Als der dann schließlich auch beim Türl draußen ist, sitze ich in der Rezeption und studiere die heute eingegangenen Befunde. Da läutet das Telefon. Am Apparat ist ein älterer Herr, nicht mein Patient. Er freut sich, dass ich noch in der Ordi bin und dass er ja noch herkommen könne. Er hat nämlich seit heute Morgen um sieben Schmerzen im linken Unterbauch. Ich frage nach: Kein Fieber, kein Ileus, kein Bruch, kein Durchfall, keine Divertikelanamnese. „Wissen Sie, ich bin seit heute um kurz nach sieben da. Jetzt wird es vier Uhr, und ich muss noch auf Hausbesuch und werde nun die Ordi verlassen.“ Er ist ganz konsterniert, aber ich mag heute nimmer mögen müssen!

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune