12. Juli 2018

Die hohe Kunst des Arztbriefschreibens

Ich hatte während meiner Ausbildung im Krankenhaus eine Zeit lang einen Chef, der darauf bestand, dass jeder Arztbrief mit der gleichen Hingabe und Sorgfalt verfasst gehört wie ein Paper zur Publikation. Dementsprechend überarbeiteten wir die Dinger wieder und wieder, feilten an Formulierungen und füllten Seiten über Seiten mit unseren Berichten. Im Nachhinein noch mein aufrichtiges Beileid den armen Kollegen, die diese literarischen Ergüsse lesen mussten! Wahrscheinlich haben nicht nur wir die eine oder andere abendliche und unbezahlte Überstunde mit den Dingern verbracht.

Ich sehe vor meinem geistigen Auge auch den übermüdeten hausärztlichen Empfänger, der nach hundertzwanzig Patientenkontakten noch versucht hat, sich das Unding reinzuziehen. Mittlerweile bin ich von der Sender- auf die Empfängerseite gewechselt. Und ich habe natürlich Hochachtung für kunstvoll verfasste Arztbriefe, die sich über Seiten hinziehen, aber Freude hab ich nicht wirklich damit. Noch schlimmer sind die ELGA-tauglichen, die zwar mit blau oder gelb unterlegten Teilen auf meinem Bildschirm einlangen, aber irgendwie trotzdem das Gefühl einer ewig langen abgewickelten Klopapierrolle hervorrufen. Kürzlich gab es eine Umfrage unter Niedergelassenen: Wie wünschen Sie sich Ihren Arztbrief?

A wie Abkürzungen

Eine gute Frage. Meine Lieblinge waren schon immer die chirurgischen: „Fract. rad. dext. l.t.“ oder so, „dist grav irgendwas“, OPVW, Nex am soundsovielten und freundliche Grüße. Da weiß man, woran man ist. Jetzt ist es mir schon klar, dass ein internistischer Patient vor allem bei komplexen Krankheitsbildern oder Multimorbidität ein wenig mehr an Diagnosen, Therapien oder Untersuchungen benötigt und dementsprechend auch mehr Papier für ihn bedruckt werden muss. Oder entsprechend viele virtuelle Seiten erstellt. Und noch viel mehr einer, der irgendwo vier Wochen auf Reha geweilt hat. Da ergibt sich Stoff für Bücher. Ich könnte jedes Mal weinen, wenn ich einen Reha-Bericht bekomme. Irgendwie ist vom Speiseplan (mit Vor-, Hauptund Zwischengang) inklusive oder exklusive Nachtisch alles genauestens beschrieben.

Dann ebenso jede Bewegung, die der Patient aktiv mit seiner Schulter oder die Therapeutin passiv mit seinem Handgelenk vollführt hat. Mit viel Glück steht auf Seite 27 so etwas wie ein Auftrag an den Weiterbehandler. Medikamente und Therapieempfehlungen, Dinge, die man kontrollieren oder weiterverfolgen sollte, oder sonst irgendetwas von praktischer und weiterführender Relevanz. Aber zurück zu den internistischen Befunden. Manchmal habe ich ja die Zeit oder das ganz besondere persönliche Interesse, um genüsslich die mindestens sieben Seiten durchzuschmökern. Aber in den meisten Fällen sehne ich mich nach einfachen klaren Aussagen und klar formulierten Anordnungen. Diagnosen, meinetwegen inklusive Blinddarmentzündung 1954, lese ich immer mit großer Aufmerksamkeit. Was mich sogar noch mehr interessiert, sind Therapien, vor allem irgendwelche neuen Medikamente bzw. irgendwelche Umstellungen von bereits etablierten Behandlungen.

Und dann natürlich noch die Sachen, die mich angehen: Welche Kontrolluntersuchungen, welche weiterführenden Maßnahmen. Nicht immer einfach zu finden. Denn oftmals liegen dazwischen seitenweise Befunde. Sämtliche MRs, CTs, Katheter, Röntgen etc. sind abgedruckt. Zusammen mit seitenweise Status und Decurs. Diese Liebe zum Detail ist ja löblich, aber ich habe selbst schon beobachtet, dass diese Informationsfülle bei mir die Fehlerwahrscheinlichkeit erhöht. Dadurch dass ich ganz ehrlich nicht immer die Zeit habe, Wort für Wort alles genau zu lesen, überfliege ich das Ganze, und siehe da, genau das, was wichtig gewesen wäre, entgeht meinem zufallenden Auge. Keine Frage, dass die erhobenen Befunde mitkommen sollten mit dem Arztbrief, aber vielleicht als Anhang? Und seit Neuestem geistern auch noch immer mehr Patienteninformationen durch die Schriftstücke. Absatzlange Erklärungen und Warnungen und „Wenn Sie das nicht tun, droht Ihnen jenes“-Sätze. Noch mehr Schrifttum, das eventuell den Blick auf das Wesentliche verstellt.

Ich kriege zum Beispiel immer wieder Arztbriefe von einem sehr gründlich schreibenden Hautarzt. Da kommt im Brief die gesamte Empfehlung zum Thema Sonnenschutz, Hautinspektion, Muttermalvorsoge und Zehennagelhygiene mit. Die für mich eigentlich interessanten Dinge sind eine kurze Diagnose oder auch mehrere und ein Wort zur Therapie, z.B. Inspektion oder Entfernung. Also ein Zweizeiler und gelegentlich dann noch vom Untergehen bedroht eine Anweisung, was von mir zu veranlassen wäre. Ich weiß schon, dass wir uns alle gerne absichern, dass wir alle immer mehr niederschreiben und nichts dem Zufall überlassen wollen. Und schon gar nicht dem mündigen Patienten. Aber unter all dem Aufklärungswust, der das Leben unserer Patienten verbessern und uns den Staatsanwalt vom Hals halten soll, gibt es noch den eigentlichen Grund des Schreibens: den Kranken.

Den Menschen, der vom Hausarzt zum Facharzt oder in ein Krankenhaus geschickt worden ist und der jetzt vom Hausarzt weiterbehandelt werden muss. Also muss der Hausarzt wissen, was da bei der Diagnostik rausgekommen ist. Dann muss der Hausarzt wissen, welche therapeutischen Optionen vorgeschlagen werden, und schließlich muss der Hausarzt wissen, was noch angedacht, aber seiner Organisation überlassen wurde. Und wenn der diese Dinge nicht mehr findet, weil sie unter vielen leeren Aufklärungssätzen verschwunden sind, leidet der Patient und seine Gesundheit. Und wenn noch mehr Sätze und noch mehr geschrieben wird, leidet auch der Hausarzt. Und dessen Gesundheit. Denn der Hausarzt oder die Hausärztin will auch irgendwann mal Feierabend machen und daheim vielleicht nur einen Krimi lesen.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune