13. Juli 201850 Jahre Medical Tribune

Der Mensch bleibt unverzichtbar

Allgemeinmediziner bleiben trotz technischer Errungenschaften gelassen. In der Ordination wird der Arzt wohl nicht durch Computer ersetzt werden. Dennoch hat die Digitalisierung auch in der niedergelassenen Praxis gewaltige Auswirkungen. (Medical Tribune 26/18)

Medizinische Software auf Basis von Künstlicher Intelligenz, medizinische Anwendungen auf dem Smartphone, Gesundheitstracker, welche die persönliche Fitness überwachen: Welche konkreten Auswirkungen werden diese Dinge auf die tägliche Arbeit in den Ordinationen haben? Die Medical Tribune hat dazu niedergelassene Ärzte, die sich selbst als digitalisierungsaffin betrachten, nach den Auswirkungen auf die Praxis gefragt. Während etwa die Radiologen um ihre Jobs bangen, weil der Computer mittlerweile in vielen Fällen Bilder besser analysieren kann als ein Mensch, geben sich die niedergelassenen Mediziner eher gelassen. Auffällig ist vor allem die Diskrepanz zwischen den fantastischen Verheißungen der Digitalisierung und der vergleichsweise tristen digitalen Realität.

Dr. Andreas Schindl ist Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten und verfolgt als Referent für Medizinische Datensicherheit, ELGA und E-Health der Ärztekammer für Wien die Entwicklungen mit großem Interesse. Angesichts der bereits bestehenden Möglichkeiten, hält er es für naheliegend, intelligente Software für die Befundung einzusetzen. Die auflichtmikroskopische Diagnose verdächtiger (pigmentierter) Hautläsionen beispielsweise basiere im Grunde auf Mustererkennung, erklärt er. Dabei wendet der Dermatologe einen etablierten Algorithmus an, der ihm hilft, innerhalb weniger Sekunden eine Diagnose zu stellen. „Selbstverständlich kann eine gut programmierte Software sowohl Mustererkennung als auch Algorithmus-Anwendung leisten“, weiß Schindl: „Schon heute wird beispielsweise in entlegenen Landstrichen Australiens auf diese Weise Melanom- Früherkennung betrieben.“

Ärzte aus Fleisch und Blut

„Eine Software, die verlässlich – das heißt mit ausreichend hoher Sensitivität und Spezifität – in der Lage sein wird, Mustererkennung und -analyse durchzuführen, kann zukünftig sicherlich eine sinnvolle Ergänzung darstellen“, bekräftigt Schindl: „Nach 20 Jahren in der Praxis bin ich allerdings absolut überzeugt, dass es weiterhin den Mediziner aus Fleisch und Blut brauchen wird, um dem Patienten gezielt die richtigen Fragen zu stellen und ihm Antworten auf seine Fragen zu geben, und zwar auf eine Weise, die er verarbeiten kann.“ Für ihn ist auch klar, dass die Patienten einen Menschen als Gegenüber wünschen. „In der Radiologie oder der Labormedizin, wo es keinen wirklichen Patientenkontakt gibt, wird die Etablierung Künstlicher Intelligenz gravierende Folgen haben“, ist Dr. Erik Huber, Facharzt für Urologie, überzeugt: „Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass zum Beispiel der rektale Tastbefund durch einen Urologen jemals ersetzt wird.“ Natürlich liefern Verfahren wie PET-MRT hochqualitative Diagnosen, sagt Huber: „Aber solche teuren Bildgebungsverfahren werden im niedergelassenen Bereich aus Kostengründen wohl nie großflächig zum Einsatz kommen.“ Dazu komme der bereits erwähnte Wunsch der Patienten nach persönlichem Kontakt mit dem Arzt: „Menschen wollen gerne mit Menschen sprechen“, bekräftigt der Urologe.

Immer mehr Daten

Auch der Arzt für Allgemeinmedizin MR Dr. Christian Husek hat keine Angst, dass ihm intelligente Computer die Arbeit wegnehmen könnten: „Das Einzige, was mir der Computer derzeit wegnimmt, ist Zeit für den Patienten.“ Die größte Veränderung, die in seinen Augen die Digitalisierung für die ärztliche Praxis mit sich bringt, ist die Informationsflut: „Es werden immer mehr Daten generiert und es ist eine mühsame und zeitaufwendige Arbeit, in dieser Flut die notwendigen Informationen herauszufiltern und daraus Wissen zu erarbeiten.“ „Ich kann mir viele digitale Lösungen vorstellen, die eine große Hilfe in der Ordination sind“, erklärt Husek: „Doch der Knackpunkt ist die Umsetzung.“

Experte Schindl: „Software kann eine sinnvolle Ergänzung sein.“

Viele gute Ideen würden leider schlecht umgesetzt und verursachten dann einen höheren administrativen und zeitlichen Aufwand und behinderten damit die eigentliche ärztliche Tätigkeit, sagt der Allgemeinmediziner und klagt – als seit mehr als einem Jahr ELGA testender „friendly user“ – bitter über die bisherige Umsetzung der Elektronischen Gesundheitsakte: „ELGA hat grundsätzlich ein hohes Unterstützungspotenzial für Arzt und Patient, ist aber am derzeitigen Stand der Integration in meine Arztsoftware, die immerhin vom größten Anbieter in Österreich ist, im Vergleich zu einem vom Patienten mitgebrachten Papierdokument für die Beratung des Patienten ein Rückschritt.“ Wenn der Patient einen Spitalsentlassungsbrief auf den Tisch lege, dann könne man diesen gemeinsam durchgehen, Wichtiges markieren und Anmerkungen oder Erklärungen anfügen. Bei ELGA hingegen müsse sich der Arzt auf den Bildschirm statt auf den Patienten konzentrieren und habe keine Möglichkeit, auf dem Dokument Änderungen oder Ergänzungen dazuzuschreiben und diese auch elektronisch festzuhalten, berichtet Husek aus dem Ordinationsalltag.

„Hier sind die entsprechenden technischen Voraussetzungen, zum Beispiel die Weiterbearbeitung auf einem Tablet, erst zu schaffen“, sagt Husek. „ELGA ist in der jetzigen Form komplett unbrauchbar“, stimmt Huber zu: „Im Endeffekt habe ich von ELGA nichts anderes als sehr langsam zu öffnende Files, die ich mir aus haftungsrechtlichen Gründen komplett durchlesen müsste – bei manchem Patienten sind das mittlerweile 200. Das ist in der Praxis nicht durchführbar.“ Hier sieht der Urologe sogar eine sinnvolle Anwendung für Künstliche Intelligenz: „Ein Tool, das die gesamte Patientenakte durchgeht und durch intelligente Algorithmen die wichtigsten Diagnosen, die Operationen, die Medikamente sowie die Allergien herausfiltert und in einfacher Form darstellt, wäre grandios.“

Haftungsfrage bleibt offen

Ein riesiges, bislang noch nicht ansatzweise gelöstes Problem in Sachen Digitalisierung und Implementierung von Künstlicher Intelligenz ist die bereits angesprochene Haftungsfrage. „Das ist die Crux bei der Automatisierung: In der Medizin ist niemand bereit, Verantwortung zu übernehmen – außer dem Arzt“, gibt Huber zu bedenken. „Die Frage der Haftung bleibt völlig offen“, weiß auch Ärztekammer- Referent Schindl und verweist auf Unfälle mit selbstfahrenden Autos, wo die Rechtslage ebenfalls ungeklärt ist: Wer für den Tod jener Frau verantwortlich gemacht wird, die im März von einem selbstfahrenden Auto erfasst und getötet wurde, steht in den Sternen.

Apps und Wearables

Am Markt werden unzählige medizinische Anwendungen für das Mobiltelefon angeboten, aber auch kleine tragbare Geräte, die Vitalparameter messen und auswerten („Wearables“).
Dazu Ärztekammer-Experte Dr. Andreas Schindl: „Zunächst sollte den Anwendern klargemacht werden, dass nicht alle Apps sinnvoll sind. Darüber aufzuklären, könnte eine künftige Aufgabe des Arztes sein. Eine Uhr, die einige Hundert Euro kostet und aufgrund von veränderten Verhaltensweisen ihres Trägers erkennen können soll, dass er vielleicht demnächst an Diabetes erkranken könnte, ist (auch aus ökonomischer Sicht) sinnlos, wenn durch einen Fingerstich oder eine Harnanalyse mittels eines wenige Cent kostenden Teststreifens die Diabetes- Früherkennung viel präziser möglich ist. Außerdem sollte man sich vor Augen halten, dass die durch solche Apps gewonnenen medizinischen Daten freiwillig Konzernen verfügbar gemacht werden. So darf man sich dann wahrscheinlich nicht darüber wundern, dass die private Zusatzversicherung plötzlich die Prämie erhöht, nachdem die Datenuhr automatisch entsprechend verdächtige Signale weitergeleitet hat. Außerdem werden all diese Dinge dazu führen, dass die Erwartungen der Patienten steigen und der Eindruck entsteht, dass Medizin so funktioniert wie eine Autowerkstatt.“

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune