13. Juli 201850 Jahre Medical Tribune

Die digitale Revolution

Künstliche Intelligenz, Wearables und das Smartphone als Diagnosetool: Die Zukunft der Medizin ist digital. Sind Ärzte irgendwann gar obsolet? Generell ist der Faktor Mensch im Gesundheitssystem nicht so leicht unterzukriegen. (Medical Tribune 26/18)

In der Vergangenheit haben neue Technologien den Arzt gestärkt, jetzt machen sie ihm in vielen Bereichen aber den Rang streitig.

Die Geschichte der Medizin ist eine Geschichte der Revolutionen. Immer wieder kam es zu bahnbrechenden Neuerungen, welche die Medizin auf eine neue Stufe hoben. Die derzeit laufende Digitalisierung der Medizin ist zweifellos eine solche Revolution. Allerdings unterscheidet sie sich in einem Punkt von allen vorhergegangenen Umwälzungen: Während etwa die Einführung der Anästhesie oder die Entdeckung der Röntgenstrahlen die Bedeutung der Ärzte steigerte, weil diese Innovationen den Medizinern immer wirksamere Instrumente im Kampf um die Gesundheit des Menschen in die Hand gaben, könnte die digitale Revolution das Gegenteil bewirken: Die Kombination von Künstlicher Intelligenz, Wearables und dem Smartphone als Diagnosetool macht dem Arzt in vielen Bereichen den Rang streitig.

Die massiven Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz – also Computerprogramme, die Daten in sinnvolle Zusammenhänge setzen und aus diesen Daten lernen können – wird derzeit vor allem in der Radiologie ausgiebig diskutiert (siehe Seite 75), aber betroffen sind sämtliche Bereiche der Medizin. Kein Fach bleibt von der digitalen Revolution verschont. Wissenschaftler der Stanford University haben eine Software entwickelt, die die ersten Anzeichen von Hautkrebs genauso gut erkennt wie ein menschlicher Dermatologe. Bei der Detektion von Lymphknotenmetastasen in Gewebeproben von Brustkrebspatientinnen ist der Computer mittlerweile besser als der Mensch. Bei einem von der Radboud Universität in Nijmegen (Niederlande) organisierten Wettbewerb, bei dem 32 Computerprogramme gegen elf Pathologen antraten, schnitten sieben Programme besser ab als der beste Mediziner.

Prof. Watson diagnostiziert

Ein in Singapur entwickeltes Programm erkennt anhand von digitalen Bildern der Retina eine diabetische Retinopathie, ein Glaukom und eine altersbedingte Makula-Degeneration (AMD) vergleichbar gut wie ein Arzt – allerdings viel schneller. Sogar auf dem Gebiet der Psychiatrie kann Künstliche Intelligenz punkten: US-Forscher entwickelten eine intelligente Software, die anhand der von Nutzern der Social-Media-Plattform Instagram hochgeladenen Fotos in bis zu 70 Prozent der Fälle erkennen konnte, ob der jeweilige Nutzer unter Depressionen leidet. Mit Watson von IBM mischt auf dem Gebiet der Gesundheit auch ein Programm mit, das darauf trainiert ist, Fragen in natürlicher Sprache zu beantworten.

Durch den Zugriff auf Unmengen an Daten und Fachpublikationen soll Watson wie ein Arzt aus Fleisch und Blut auf Basis verbaler Informationen Diagnosen erstellen und Therapien vorschlagen, wobei Dr. Eva Deutsch, Leiterin des Bereichs Healthcare Industries Austria von IBM, betont: „Es geht um Unterstützung und nicht um Ersatz des Menschen.“ Die Ergebnisse sind bislang durchwachsen. Auf der einen Seite hat Watson in einer Studie aus Indien bei Brustkrebspatientinnen in 93 Prozent der Fälle die gleichen Therapievorschläge gemacht wie das Tumorboard. Das Programm hat in einer US-Studie auch retrospektiv Krebsfälle analysiert und kam in über 99 Prozent der Fälle zu denselben Schlüssen, wie auch die Ärzte gekommen waren – in 300 Fällen allerdings fand Watson therapeutische Optionen, an die die menschlichen Behandler nicht gedacht hatten.

Auf der anderen Seite allerdings haben etwa das MD Anderson Cancer Center der University of Texas oder der deutsche Klinikbetreiber Rhön ihre Experimente mit Watson mangels Erfolgs wieder eingestellt. Die Anamnese ist nur eine Möglichkeit, Informationen von Patienten zu bekommen. Die andere sind Messungen von Laborwerten oder Vitalparametern. Und auch auf diesem Gebiet hat die Digitalisierung Einzug gehalten: in Form von Wearables, also am Körper getragenen oder in der Kleidung integrierten Messsystemen wie etwa der Apple Watch. Im Vorjahr wurden – vor allem für Fitness-Anwendungen – weltweit mehr als 115,4 Millionen Wearables verkauft. Für medizinische Zwecke wird bereits fleißig an High-Tech-Wearables gearbeitet.

Tattoo-Elektroden

Eine italienisch-österreichische Forschungsgruppe unter Beteiligung der TU Graz hat zum Beispiel Elektroden für das Langzeitmonitoring elektrischer Herz- oder Muskelimpulse in Form von temporären Tattoos entwickelt. Aufgrund ihrer extrem geringen Dicke von unter einem Mikrometer passen sich die Tattoo-Elektroden den Unebenheiten menschlicher Haut perfekt an, sogar Haarwachstum beeinträchtigt die Leistungsfähigkeit der Elektrode und die Signalübertragung nicht. „Wir arbeiten an der Entwicklung von drahtlosen Tattoo-Elektroden mit integriertem Transistor, die es ermöglichen würden, Signale sowohl zu empfangen als auch zu senden. Wir könnten so nicht nur Impulse messen, sondern Körperregionen gezielt stimulieren“, erklärt Dr. Francesco Greco, Materialwissenschaftler am Institut für Festkörperphysik der TU Graz.

Der Tricorder piept

Übertragen werden die solcherart gemessenen Werte über ein Gerät, das heutzutage die meisten Menschen mit sich tragen: das Smartphone. Prof. Dr. Marc Dewey von Institut für Radiologie der Berliner Charité ist nicht der einzige Mediziner, der das Smartphone mit dem „Tricorder“ aus „Raumschiff Enterprise“ vergleicht, mit dem Schiffsarzt Dr. McCoy die tollsten Diagnosen stellen konnte. Heute ist das keine Science Fiction mehr. Mittlerweile gibt es zum Beispiel handliche Ultraschallsonden, die sich über eine App kabellos mit einem Smartphone verbinden lassen und die etwa in den USA für bestimmte medizinische Anwendungen zugelassen sind. Mittels diverser Apps kann heute jedermann sein Handy zum Tricorder aufrüsten. Eine dieser Apps ist mySugr, die von einem österreichischen Start-up-Unternehmen entwickelt wurde, das mittlerweile vom Pharmariesen Roche gekauft wurde. Die App umfasst unter anderem ein Diabetes-Tagebuch, einen Insulinrechner und die nahtlose Integration von Blutzuckermessgeräten verschiedener Hersteller und nimmt den Nutzern somit das tägliche Therapie-Management ab. Zudem wird die Therapie zwischen den Arztbesuchen unterstützt. „Mittlerweile nutzen mehr als eine Million User weltweit unsere App“, bekräftigt Benno Grottenegg, Business Development Manager bei der mySugr GmbH.

Facebook liest mit

In Großbritannien propagiert der Nationale Gesundheitsdienst NHS massiv – etwa durch Werbung in U-Bahnen – den Einsatz von Apps. Über eine App namens Babylon sollen die Versicherten bei gesundheitlichen Beschwerden mit einem Chat-Bot Kontakt aufnehmen, also einem intelligenten Programm, mit dem man auf Basis von Textnachrichten kommunizieren kann. Auch radiologische Bilder und die Patientenakte sind über dieses System verfügbar und können etwa mit Freunden oder der Familie geteilt werden. „Einloggen kann man sich auch über Facebook, das heißt: Facebook hat dann auch Zugriff auf diese Daten“, berichtet Eva-Maria Kirchberger, Forscherin auf dem Gebiet des Organisational Behaviour Design am Imperial College in London. Dass der NHS auf Apps setzt, hat einen Grund: Das britische Gesundheitssystem steht kurz vor dem finanziellen Kollaps und die Verantwortlichen erhoffen sich Entlastung, wenn die Versicherten mit dem Chat-Bot sprechen statt mit einem menschlichen Mediziner. Dabei haben die Erfinder allerdings die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Laut einem Bericht der Zeitung „Independent“ übertreiben viele Nutzer gegenüber Babylon bei der Schilderung ihrer Symptome, um schneller einen Termin bei einem Arzt zu bekommen. Trotz digitaler Revolution ist der Faktor Mensch nicht unterzukriegen.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune