10. Juli 201850 Jahre Medical Tribune

„Psychiatrie gehört zu moderner Medizin“

Die Psychiatrie hat eine rasante Entwicklung hingelegt, allein die Psychiater fehlen. Warum es mehr davon braucht und eine integrative Sichtweise aller nötig ist, erklärt Prim. Dr. Christa Radoš, Präsidentin der ÖGPP. Außerdem: Ein neues Fortbildungsformat steht vor der Tür. (Medical Tribune 26/18) 

Frau Präsidentin, als Schwerpunkt für das Interview haben Sie die Psychosomatik vorgeschlagen, warum?

Prim. Dr. Christa Radoš, FÄ für Neurologie & FÄ für Psychiatrie, LKH Villach, ist Präsidentin der Österr. Gesellschaft f. Psychiatrie, Psychotherapie & Psychosomatik.

Radoš: Mit diesem Begriff sind sehr viele Unschärfen und Missverständnisse verbunden, innerhalb und außerhalb der Medizin. Die Psychosomatik als integrative Sichtweise, die somatische, psychische und soziale Perspektiven berücksichtigt, sollte die ärztliche Haltung generell bestimmen. Diese Haltung soll bereits im Studium vermittelt werden, weil die Trennung von Soma und Psyche eine sehr künstliche ist. Jeder somatische Mediziner sollte also auch die Psyche mitberücksichtigen und wir Psychiaterinnen und Psychiater die Körper unserer Patienten – das ist moderne Medizin. Bei vielen somatischen Krankheiten ist es mittlerweile gut belegt, dass negative Affekte wie Hoffnungslosigkeit, Ärger oder Traurigkeit die Prognose und die Adhärenz beeinflussen. Zum Beispiel ist es prognostisch entscheidend, eine Depression bei Patienten mit Herzinfarkt oder Schlaganfall adäquat zu diagnostizieren und zu behandeln. Die Psychiatrie bietet dazu bewährte Modelle wie Konsiliar- und Liaisondienste.

Gibt es noch weitere Vorurteile?

Radoš: Ja, es ist ein Vorurteil, dass es eigene psychosomatische Erkrankungen gebe und dass die Psychosomatik eine Art Spezialfach sei. Das ist sie nicht! Es gibt psychische Erkrankungen, die stark körperliche Aspekte haben, wie Somatisierungs- oder Essstörungen – auch Angststörungen und Depressionen haben wesentliche somatische Implikationen. Diese Erkrankungen sind aus gutem Grund Fachdomänen der Psychiatrie. Es macht überhaupt keinen Sinn, die Psychosomatik von der Psychiatrie abzuspalten. In Europa haben den Weg der Separation des Fachbereichs Psychosomatik nur Deutschland und Lettland beschritten. In Österreich ist derzeit eine Zusatzausbildung der Österreichischen Ärztekammer in Vorbereitung, nämlich eine „Spezialisierung in fachspezifischer psychosomatischer Medizin“. Diese Ergänzung soll es interessierten Kolleginnen und Kollegen vor allem aus dem Bereich der somatischen Fächer und der Allgemeinmedizin ermöglichen, ihren fachspezifischen psychosomatischen Zugang zu vertiefen. Die Kernkompetenz in der Behandlung psychiatrischer Krankheiten wird allerdings stets beim Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin zu verorten sein.

Welche Rolle haben Hausärzte?

Radoš: Die Hausärzte sind die zentralen Integrationsfiguren im Gesundheitssystem. Es war daher in Anbetracht der Häufigkeit psychischer Erkrankungen ein Meilenstein, dass in der Ärzteausbildungsordnung (ÄAO) 2015 die Psychiatrie für Allgemeinmediziner ein Pflichtfach wurde. Zukünftig wird jeder Allgemeinmediziner eine dreimonatige psychiatrische Ausbildung zu absolvieren haben. Bis die neu ausgebildeten Kolleginnen und Kollegen flächendeckend im Versorgungsystem ankommen, werden allerdings noch viele Jahre vergehen. Derzeit ist die Landschaft sehr heterogen. Es gibt Hausärzte, die zum Beispiel PSY-Diplome erworben haben und die sich psychiatrisch sehr engagieren, und solche, die andere Schwerpunkte setzen.

In welchen Fällen sollten sie psychiatrische Expertise dazuholen?

Radoš: Wenn die Diagnose klar ist und die Behandlung zum Beispiel einer Depression gut funktioniert, ist der Patient bei seinem Hausarzt gut aufgehoben. Wenn die Therapie keinen Erfolg hat, wenn die Diagnose zu hinterfragen ist, wenn es um Komorbiditäten, um komplexere Krankheitsbilder, um Multimedikation oder um Psychopharmaka mit hohem Nebenwirkungspotenzial geht, dann sollte man einen Facharzt für Psychiatrie zurate ziehen. Das ideale Modell ist eine Zusammenarbeit: Der Hausarzt bekommt den Patienten zurück und führt die Behandlung weiter. Anders würden wir es gar nicht schaffen, vor allem im ländlichen Bereich. Es ist wichtig, dass der Hausarzt vor Ort mit psychiatrischer Expertise unterstützt wird, um die Patienten in der Heimatgemeinde gut betreuen zu können.

Bei Ihrem Antritt als ÖGPP-Präsidentin, 2016, haben Sie sich für die Psychiatrie als eines der wichtigsten Versorgungsfächer eingesetzt.

Radoš: Ja, aufgrund der gewaltigen Epidemiologie psychischer Erkrankungen. Man weiß mittlerweile, dass jeder Vierte im Laufe eines Jahres eine psychische Erkrankung erlebt. Die Psychiatrie hat schon seit vielen Jahren die Multiprofessionalität durch die Zusammenarbeit von Ärzten mit Therapeuten, Pflegefachkräften und Psychologen zu einer ihrer Stärken erhoben, in Zukunft wird es allerdings mehr Psychiater brauchen, um die Bevölkerung versorgen zu können.

Wie viele Psychiater brauchen wir?

Radoš: Die Versorgungssysteme der einzelnen Bundesländer sind schwer vergleichbar. Aktuell benötigen wir einerseits mehr Fachärzte für den Spitalsbereich als in Zeiten vor dem Arbeitszeitgesetz, um die für unser Fach entscheidende Beziehungskontinuität zumindest in Ansätzen erhalten zu können. Außerdem fordern wir mehr Kassenstellen – derzeit sind es rund 140 für ganz Österreich! Und auch die sozialpsychiatrischen Einrichtungen benötigen ausreichend Fachärzte. Der Fachärztemangel hat sich in den letzten Jahren vor allem durch Pensionierungen verschärft. Wir haben zwar eine Mangelfachregelung im Rahmen der ÄAO 2015 erreichen können, aber es dauert noch, bis diese zusätzlich ausgebildeten Fachärzte dem System zur Verfügung stehen.

Wie kann man Jungärzten die Psychiatrie schmackhaft machen?

Radoš: Ich glaube fest daran, dass wir ein hochattraktives und sehr reizvolles Fach haben, das an der spannenden Schnittstelle zwischen Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft und Sozialwissenschaft angesiedelt ist. Nicht zuletzt war es diese Tatsache, die auch mich in dieses Fach gezogen hat. Was weniger attraktiv ist, ist die Honorierung. Solange Gesprächsmedizin schlechter dotiert ist als Apparatemedizin, beeinflusst das die Entscheidung junger Medizinerinnen und Mediziner. Ein weiterer Punkt: Bisher sind Jungärzte zum Beispiel im Zuge der Turnusausbildung immer wieder an unsere Abteilungen gekommen und haben oft großen Gefallen an unserem Arbeitsbereich gefunden. Durch die neue ÄAO mit neun Monaten Basisausbildung „verirren“ sich deutlich weniger Ärztinnen und Ärzte zu uns. Wir müssten schon an den Unis für unser Fach begeistern. Beim Selektionsverfahren vor dem Medizinstudium sind leider kaum Social Skills gefordert: Da wird eine Auswahl getroffen, die Menschen, die gerade für diesen Bereich begabt sind und die interessiert wären, möglicherweise benachteiligt und vom Medizinstudium abhält.

Wie haben Sie selbst die Entwicklung Ihres Faches erlebt? Und was glauben Sie, quo vadit Psychiatrie?

Radoš: In den letzten 20 Jahren hat sich in der Diagnostik und den therapeutischen Möglichkeiten sehr viel getan. Wir haben eine Fülle neuer, besser verträglicher und sehr gut wirksamer Medikamente in die Hand bekommen, sei es am Sektor der Antidepressiva oder der Antipsychotika. Ein Meilenstein war auch die Integration der Psychotherapie in unser Fach. Es wird sich auch in den nächsten zehn, 20 Jahren sehr viel tun. Die Psychiatrie entwickelt sich hoffentlich dorthin, wo sie hingehört. Ich wünsche mir, dass psychische Erkrankte zukünftig eine entsprechend breite Versorgungslandschaft vorfinden, dass jeder Mensch die Behandlung bekommt, die ihm zusteht und dass die Behandlung auch adäquat honoriert und erstattet wird. Wir sind ein dynamisches Fach, in Wissenschaft, Diagnostik und Behandlungsmöglichkeiten. In den Neurowissenschaften gibt es ständig neue Ergebnisse. Ich glaube, der Weg wird künftig verstärkt in Richtung personalisierte Medizin gehen: Das betrifft die biologischen, psychologischen und sozialen Aspekte unseres Faches. Wir werden die Patienten noch gezielter behandeln und in Zukunft noch präziser arbeiten können.

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune