29. Juni 201850 Jahre Medical Tribune

Dr. Stelzl: Das Wölkchen war nicht immer rosa

Die MT wird fünfzig. Hurra, alles Gute zum Geburtstag! Und als langjährige Kolumnistin darf ich auch etwas beisteuern zur Jubiläumsausgabe. Etwas Besonderes sollte es natürlich sein. Und deshalb starre ich seit Wochen auf den leeren Bildschirm meines MacBook. Nach dem Essen, vor dem Essen, mit einer Kanne „Empress Grey“, mit drei Tassen Ristretto und sogar mit einem Glas Champagner bewaffnet bin ich schon dagesessen. Nichts. Gähnende Leere im Hirn. Ich habe auch schon alle Räume in der Wohnung durch bis auf das Bad, das Klo und das Speisekammerl. Vielleicht bringt ja räumliche Veränderung die große Inspiration? Noch immer nichts. Heute Morgen habe ich meine Qi-Gong-Übungen gemacht und danach mein Kombiprogramm aus Kraft- und Dehnungsübungen. Schließlich wird nicht nur die MT fünfzig, sondern ich auch.

Bezüglich meiner Wenigkeit fällt mir da einiges ein. Zum Beispiel wird die Anzahl der Liegestütze pro Serie immer geringer und der einstige Querspagat nähert sich unangenehm einem 90-Grad-Winkel. Mir persönlich ist eher nicht zum Feiern zumute. Ganz im Gegenteil. Meine Großhirnrinde projiziert gerade Bildchen von künstlichen Hüftgelenken, braunen Kompressionsstrümpfen und orthopädischen Schuhen in mein Bewusstsein. Als Zeitung hat man es da mit dem halbrunden Jubiläum leichter und kann hoffnungsvoll und kreativ dem nächsten Jubiläum entgegengehen und -arbeiten. Persönlich muss ich auch endlich mit diesem „Ich werde alt“-Gejeiere aufhören. Nur das ist nicht ganz einfach. Denn nicht nur körperlich spüre ich, dass ein rauerer Wind anhebt, auch beruflich zwickt es an allen Ecken und Enden. Keine Angst, es kommt jetzt kein „Früher war alles besser. Wo sind die guten alten Zeiten? Ich will zurück auf mein rosa Wölkchen“-Gesülze. Ich weiß nämlich sehr genau, dass das Wölkchen am Anfang meiner Medizinerkarriere ganz und gar nicht rosa war. Eher dunkelschwarz.

Und ich bin auch nicht darauf gesessen oder geschwebt, sondern es hat drückend auf mir gelegen. Meinen allerersten Nachtdienst verbrachte ich – natürlich völlig ohne Einschulung oder Vorbereitung – mit dem Verabreichen von Bluttransfusionen und in der panischen Angst, doch irgendetwas fehlgekreuzt zu haben. Starr wie das Kaninchen vor der Schlange wartete ich darauf, dass die Patienten sterben und ich für immer den Traum vom Arztberuf aufgeben müsste. Den zweiten Nachtdienst (gleich in der darauffolgenden Nacht, sowas wie Arbeitszeitgesetz war damals nicht wirklich interessant) verbrachte ich hakelhaltend im OP. Die ganze Nacht. Diesmal wollte ich sterben, der Traumberuf war mir egal geworden.

Noch mehr Arbeit

Doch es wurde besser. Viel Arbeit, ein rauer Umgangston und dann noch mehr Arbeit. Dokumentiert wurde nur das absolute Minimum und das in dreibuchstabigen Abkürzungen. Hatte man was verbockt, so flogen die Beschimpfungen (und das eine oder andere chirurgische Instrument) schon mal tief. Aber im Ernstfall war da immer ein Primar, der sich wie eine Bärenmutter auf die Hinterbeine stellte, um seine Mitarbeiter zu schützen. Vielleicht waren die alten Zeiten doch ganz gut? Damals hatte ich nur die Angst, den Patienten zu schädigen oder meinen Chef zu enttäuschen. Und auch meinen Großvater, der als alter Landarzt misstrauisch meine medizinischen Fortschritte beäugte. Heute ist die Zahl der Ängste explodiert. Ich will noch immer niemanden enttäuschen und schon gar niemandem schaden. Das ist sozusagen die generalisierte Basisangst.

Dazwischen blitzt die Panik auf, irgendwas einmal nicht gefragt oder bedacht zu haben, es vergessen oder nicht aufgeschrieben zu haben und ohne adäquate Dokumentation vor einem unbarmherzigen Richter zu stehen. Und das Ganze ohne Bärenmami zu meinem Schutz. Dazu drückt die Sorge, von der Krankenkasse wieder zum amikalen Gespräch geladen zu werden, weil ich zu genau und zu teuer arbeite. Genau diese Sorge liefert sich um vier Uhr morgens Wortgefechte mit der Panik, medizinisch was verbockt zu haben, weil ich eben nicht genau genug gewesen sein könnte. Auf der einen Seite lauert die Ökonomieabteilung, auf der anderen Seite das Strafgericht. Auch dieser Spagat wird immer schwieriger. Genau wie ich keinen Überschlag nach hinten oder Salto nach vorne mehr mache, will ich mich nicht mehr in alle Richtungen verbiegen, um alle meine Patienten zufriedenzustellen. Natürlich will ich weiterhin medizinisch erstklassig arbeiten.

Aber Extrawürsteln zu jeder Tageszeit und Übergriffigkeiten: Nein danke! Und da ist auch schon die Angst, mich deshalb als böse Hexe mit miserablem Rating auf irgendwelchen Internetseiten wiederzufinden. Am Beginn meiner selbstständigen Arbeit ist dann noch die Existenzangst dazugekommen, die Sorge, die Kredite nicht zurückzahlen zu können, und ein würgendes Gefühl von Panik bei jedem Brief von der Bank. Mittlerweile hat sich das beruhigt und deshalb könnte man glauben, das Goldene Zeitalter für mich als Hausärztin hätte jetzt endlich begonnen. Weit gefehlt. Endlich habe ich mich etabliert, der Kredit ist geschrumpft, die Mitarbeiter sind zufrieden, die Ordination ist renoviert und die EDV-Anlage neu. Patienten haben wir genug, um uns auf Trab zu halten und selbst mit den nicht unumstrittenen Kassenhonoraren ganz gut auszukommen. Die anfängliche Sorge, dass uns keiner findet, da die Ordi in einer Nebenstraße liegt, ist längst Geschichte. Ganz im Gegenteil: Mittlerweile würden wir oft gerne das Schild verhüllen und die Türe mit Brettern vernageln.

Am Limit angekommen

Wann ist es eigentlich genau passiert, dass ein Zustrom von neuen Patienten kein Gefühl von Freude und stolzer Zufriedenheit mehr auslöst, sondern jeder neue Patient eine Bedrohung darstellt? Wann genau sind wir am Limit angekommen? Und wann genau haben wir es heimlich, still und leise überschritten? Wann habe ich begonnen zu zittern, weil ich bemerkt habe, dass jede Kleinigkeit meine Welt aus den Fugen bringen kann? Eine Angina meinerseits, ein unvorhergesehener Extratermin, ein kranker Mitarbeiter, Vertretungspatienten während der Grippewelle. Und schon sind wir über das eh schon überschrittene Limit noch weiter hinaus. Uff. „Noch einmal gut gegangen“, klopfen wir uns während der immer kürzer werdenden Verschnaufpausen dazwischen auf die Schultern. Wie weit kann man eine fünfzigjährige Hausärztin noch strecken und dehnen, bevor irgendein schadhaftes Bauteil reißt oder bricht? Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass ich das in diesem Leben noch herausfinden werde. Heuer ist eine eindrucksvolle Grippewelle über uns drübergeschwappt. Entwarnung gibt es keine, im Gegenteil, es droht ein Tsunami: die Pensionierungswelle. Dieser gegenüber steht ein Ausbildungsschlüssel, den irgendeiner errechnet hat, der in Mathe noch viel mieser war als ich. Kaum zu glauben, aber das gibt es offenbar. Und dann locken auch noch lukrative Jobs im Ausland und die Jungärzte, die trotzdem hierbleiben, wollen sich ihr Leben und ihre Arbeit sehr genau aussuchen. „Tretmühle, Hamsterrad? Ich bin doch nicht blöd!“

Alte Hamster treten ab

Also werden die ganz alten Hamster sich in die verdiente Pension absetzen und junge Hamster kommen keine nach. Was für beglückende Aussichten für mittelalterliche Hamster! Jedes Jahr wird sich das Rad ein wenig schneller drehen, denn jedes Jahr werden es mehr Patienten sein, mehr Begehrlichkeiten, mehr bürokratische Hürden und mehr medizinische Errungenschaften. Manchmal, da wird mir ganz schwindlig. Angst vor meiner Zukunft als Hausärztin? Hab ich. Als ich jung war, gab es keine Jobs für mich, jetzt habe ich endlich einen guten Job, aber dieser wird langsam zu viel des Guten, und wenn ich einmal alt bin, wird es keinen Hausarzt mehr geben, der mich dann noch betreuen kann. Aber bevor ich jetzt ganz trübsinnig werde: Heute feiern wir erst mal ein halbes Jahrhundert „Medical Tribune“, und morgen ist auch noch ein Tag!

Die besten Kolumnen aus 12 Jahren
Sagenhafte 535 Kolumnen hat Dr. Stelzl schon veröffentlicht. Die besten aus zwölf Jahren können Sie in ihren „Hallo Doc“-Büchern nachlesen: „Hallo Doc – Anekdoten aus der Sprechstunde“ (Goldegg Verlag 2014, ISBN 978-3-902903-77-8) und „ Hallo Doc 2 – Der ganz normale Praxiswahnsinn” (2016, erhältlich bei Amazon).

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune