29. Juni 2018

„Alles wird immer depperter …“

… Diese weise Aussage stammt aus dem Munde der besten aller Assistentinnen. Die Frau, die vor ein paar Jahren noch schwungvoll erklärt hatte, bis fünfundsechzig arbeiten zu wollen, die aber mittlerweile die Tage bis zur Pensionierung zählt. Ich muss sie einmal fragen, ob sie daheim im Abstellkammerl oder Klo eine Stricherlliste hängen hat: „Neue Lage … Tage.“ Und sie hat ja recht. Von nationalen oder globalen politischen, wirtschaftlichen oder umwelttechnischen Fehlentscheidungen wollen wir erst gar nicht einmal sprechen. An manchen Tagen muss ich mir wirklich aktiv verbieten, irgendwelche Nachrichten zu lesen oder zu hören. Ich könnte sonst einfach verzweifeln. Je älter ich werde, desto weniger stumpfe ich ab, desto mehr geht es mir unter die Haut und desto mehr frustriert mich die eigene Machtlosigkeit.

Ich versuche mich also auf das zu beschränken, was in der täglichen Praxisarbeit immer depperter wird. Und das ist ohnehin ausreichend, um entweder Schokofressorgien zu veranstalten, Schreikrämpfe zu bekommen, still frustriert mit dem Saufen zu beginnen oder den ganzen Krempel hinzuschmeißen. Oder alles zusammen und der Reihe nach zu probieren. Wenn Sennerin werden doch ein Option wäre! Aber erstens zahlt Sennerin-sein keine Wohnungskredite und zweitens müssen bestimmt mittlerweile Alm und Rindviecher umständlichst qualitätsgesichert sein. Wahrscheinlich verbringt der Senn oder die Sennerin heutzutage auch schon den großen Teil des Tages in der Hütte, um am Laptop die Daten seiner Kühe zu dokumentieren statt an der frischen Luft. Und möglicherweise muss er die Daten ebenfalls verschlüsseln, rechtzeitig löschen und jede Kuh über ihr situatives Recht der optionalen Milchverweigerung gesondert aufklären.

Gerade haben wir uns wenigstens ein bisschen mit dem, was alles immer depperter wird, arrangiert. Es ist ja nicht so, dass wir nicht adaptieren könnten. Es hilft ja auch nix. Stocksteif stehen zu bleiben und sich dagegenzustemmen, bringt genau gar nichts. Der harte unbeugsame starre Baum wird früher oder später brechen, wenn die Gewalt, die auf ihn einwirkt, zu groß ist. Nur der flexible wird sich im Sturm biegen können und danach wieder aufrichten. Alte Weisheit aus fast dreißig Jahren Kampfsport.

A wie Anpassungsfähigkeit

Ich kann Ihnen aber versichern, dass dieser grüne Baum vom Biegen schon ordentliche Rückenschmerzen hat und sich auch manchmal fragt: Wozu wieder aufrichten? Für den nächsten Sturm? Warum nicht hinlegen und ausschlafen? Aber ich weiß, dass das keine Option ist. Zumindest nicht in den nächsten fünfzehn bis zwanzig Jahren. Also biege ich mir ein Lächeln aufs Gesicht und höre geduldig Menschen zu, die halb so alt sind wie ich und halb so viel arbeiten, dass sie nicht mehr können und dass ich ihnen helfen soll. Oder solchen, die so alt wie ich sind oder ein paar Jahre älter und denen ich den Weg zur Frühpension ebnen möge. Oder solchen, die, wenn sie nicht sofort und auf der Stelle bekommen, was sie fordern, einen Aufstand machen würden, und das wollen wir ja nicht.

Und wir wollen ja auch nicht schon wieder schlechte Rezensionen bekommen von jemandem, der keinen Termin hatte und deshalb erfahren musste, dass die Terminpatienten ihr vorgezogen werden. Die Kritik macht sich jetzt nicht gut im Internet, und da wir ja heute alle laufend beurteilt, geliked und verurteilt werden, muss ich schon ein wenig aufpassen. Schließlich stimmt ja alles, was im Internet steht. (Waren das noch Zeiten, als Papier geduldig war!) Vor mir sitzt eine junge Dame und beschreibt mir Hautveränderungen an delikater Stelle. Ich höre mir das an und stelle eine Verdachtsdiagnose, welche ich mit einer Überweisung zum Gynäkologen noch erhärten möchte.

„Nein, das kann es auf keinen Fall sein, denn ich habe das gegoogelt, das schaut anders aus.“ Mit betont sanfter Stimme überzeuge ich sie, dem Gynäkologen doch eine Chance zu geben. Und gegen die Rückenschmerzen soll sie doch wirklich ein Ibuprofen nehmen. „Das mach ich nicht, weil alle sagen, dass Schmerzmittel so schlecht sind!“ Jetzt reicht’s mir: „Mir ist wurscht, wie die Bilder auf Google aussehen, und noch wurschter, was die Sekretärin, der Barkeeper und die Frisörin zu Schmerzmitteln sagen. Ich bin hier die Ärztin, ich hab das studiert und Sie tun jetzt, was ich sage. „Cool“, meint sie und trabt zufrieden von dannen. „Hä?“, frage ich mich. Aber vielleicht brauchen manche gelegentlich eine Predigt von Mama. Als Nächstes kommt eine Patientin mit Blasenbeschwerden und stellt mir ein Gurkenglas mit Harn auf den Schreibtisch.

„Warum, glauben Sie, haben wir ein Klo und habe ich auch Mitarbeiter, die sich so was ansehen?“ Als Antwort kommt: „Ich wollte mich bei Ihren Assistenten nicht aufdrängen.“ Ich ergreife das Gurkenglas und schimpfe im Hinausgehen: „Ich kann und will so nicht weiterarbeiten.“ Aber erst der Dritte kriegt mein Fass zum Überlaufen: Hoher Blutdruck, er hat eine einzige Tablette probiert, dann den Beipack gelesen. Danach hat er das Medikament abgesetzt. Und statt einer Rückmeldung an mich ist er auf die Notaufnahme gegangen. Mit 150/100! „Ich weigere mich, so weiterzumachen!“, gifte ich laut hörbar durch die Ordination. Die beste aller Assistentinnen grinst: „Gell, auch mit den Leuten wird’s immer depperter!“

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune