23. Apr. 2018

Sie haben die freie Arztwahl

Total geschlaucht nach dem letzten Quartal laboriere ich immer noch an Kopfschmerzen, der in der Ordi mitarbeitende Göttergatte immer noch an Hustenattacken, und die beste aller Assistentinnen zeigt immer noch an zu vielen Tagen ein akutes Bedürfnis zu flüchten. Also reden wir miteinander und versuchen herauszufinden, wo wir Arbeitsprozesse optimieren, Druck herausnehmen und Lebensqualität verbessern können. (Das wird natürlich auch ganz brav als Mitarbeitergespräch dokumentiert, wir sind ja auch ganz brav qualitätsgesichert.) Ein Neujahrsvorsatz ist jedenfalls gründlich danebengegangen. Nämlich der, keine neuen Patienten zu nehmen. Da sich die Einwohnerzahl in meinem Bezirk und im danebenliegenden in den letzten Jahrzehnten stetig vermehrt, aber immer noch gleich viele Hausärzte hier werkeln wie zur Jahrtausendwende, klappt das nicht.

Also gibt es natürlich jeden Tag neue Patienten, denn Leute aus unserer Gegend nehmen wir selbstverständlich. Und dann sind auch noch die, die angeblich am Mittwochmittag in ganz Graz keinen anderen gefunden haben, oder die, die mit Darmproblemen kämpfen und mich empfohlen bekommen haben. Und dann die, die nur Englisch sprechen oder zumindest unbedingt in dieser ihrer Muttersprache kommunizieren wollen, gefolgt von sämtlichen Spaniern und Lateinamerikanern im weiteren Umkreis, denen es genauso geht. Keinen davon will ich ablehnen. Und dann gibt’s ja auch noch die, die so arm sind und mir so leidtun. Soweit zur Stressreduktion durch Ablehnung neuer Patienten.

P wie Prozessoptimierung

Heute ist wieder einmal ein mühsamer Tag. Ich habe fürchterlich Kopfweh, keine Ahnung, ob durch den Wetterumschwung oder durch Verspannungen, irgendwie setzt sich das Kopfweh übergangslos bis zum Kreuzbein fort. Vor den Augen flimmert es ein wenig, entweder beginnt gleich eine Migräne oder meine Glaskörpertrübungen tanzen besonders fröhlich über den Bildschirm. Vor der Ordinationszeit haben wir uns vier Patienten zur Gesundenuntersuchung bestellt. Fünf sind gekommen. Prinzipiell ja sehr nett, aber halt ein klein wenig stressig. Der erste Patient, der nur einen kurzen Einschubtermin dazwischen gebraucht hat, bricht weinend zusammen, körperlich und seelisch totale Krise und das seit Monaten verschleppt und verdrängt. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass ich mich mit dem jetzt nicht ausführlich genug beschäftigen kann.

Ich nehme ihm schnell Blut ab, mache ein EKG, lasse Blutdruck messen und erkläre ihm, dass ich nach all den anderen ausführlich Zeit für ihn haben werde. Bis dahin heißt es bitte warten. Er verbringt wirklich den ganzen Vormittag geduldig in meiner Ordi und ausgerechnet er meint, wir hätten ein tolles Management und er würde sich total super betreut fühlen. Den könnte ich knuddeln! Nicht so die nächste Patientin, Termin zur Blutabnahme eigentlich erst eine Stunde später. Aber da hat sie keine Zeit und sonst kommt sie halt irgendwann wieder. Natürlich greife ich ein bisschen schneller und stopfe diese Blutabnahme noch irgendwie vorzeitig dazwischen. Weil sie sich auch das nächste Mal nicht an ihren Termin halten wird und immer böse auf mich sein wird, wenn sie auch nur drei Minuten warten muss. Im Vorzimmer und an der Rezeption bildet sich mittlerweile ein kleiner Stau. Ich setze mich kurz an den PC in der Aufnahme, um ein Chefarztansuchen zu verfassen, es geht um Weiterverordnung eines Insulins, die mitgebrachte Erstverordnung ist auf Italienisch.

Da ertönt es: „Wie lange wird das jetzt noch dauern?“ Die Patientin hat einen Einschubtermin und wartet schon seit ganzen zwanzig Minuten. Mir dröhnt der Kopf und vor lauter schneller und schneller greifen ist mir auch leicht übel. Ich gifte also zurück, dass wir uns hier eh den Allerwertesten abarbeiten, aber noch schneller geht nicht. (Dann nehme sie als Nächstes dran und bin besonders freundlich.) Beim Verlassen des Sprechzimmers höre ich erhobene Stimmen. Ein Patient hatte angerufen, wegen seiner Medikamente. „Die schreiben wir dann auf, wenn Sie da sind“, war unsere Antwort. (Außer Bewilligungspflichtiges, das kann immer gerne telefonisch vorbestellt werden, damit die Leute keine Wartezeiten haben.) Ich will aber nicht, dass meine Mitarbeiter ständig unterbrochen werden und zwischen den Karteien hin- und herspringen, wenn jemand eh zehn Minuten später in der Ordi steht. Sagt der doch allen Ernstes: „Wenn Sie das gefälligst gleich aufgeschrieben hätten, wie ich es am Telefon gesagt habe, dann bräuchte ich jetzt nicht auf die Unterschrift von der Frau Doktor warten.“ Ganze drei Minuten muss er warten!

Inzwischen werden es noch mehr Leute, einige halten den heutigen Mittwoch offenbar für den morgigen Donnerstag und stehen jetzt schon auf der Matte. Wurscht, wir arbeiten und laufen halt noch ein bisschen schneller, wie Hamster auf Koks. Dafür arbeitet der chefärztliche Dienst kompensatorisch besonders langsam. Wartezeiten bis zu einer Stunde für Bewilligungen haben wir heute. Und das für Menschen, die aussehen, als würden sie mich erschlagen wollen, obwohl ich nix dafür kann. Im Wartezimmer droht der Aufstand und ich warte beinahe darauf, dass der erste handgreiflich wird. Ich glaub, ich kann bald nimmer. Da kommt mir eine Idee. Wenn ich schon nicht reduzieren kann, weil ich es so selten übers Herz bringe, neue Patienten abzulehnen, könnte ich das Problem anders angehen: „Unzufrieden? Auf Wiederschaun! Sie haben die freie Arztwahl!“

Dieser Beitrag erschien auch im Printmagazin Medical Tribune